Blinder Passagier
»Während wir fahren«, sagte ich.
»Ich bin Ihr Fremdenführer?« Das fand er sehr komisch. »Ich lebe hier. Wohin möchten Sie?«
»Wissen Sie, wo das Leichenschauhaus ist? An der Seine in der Nähe des Gare de Lyon?«
»Dort wollen Sie hin?« Wieder drehte er sich zu mir um und runzelte die Stirn.
»Ich werde dorthin wollen. Aber zuerst möchte ich auf die Ile Saint-Louis«, sagte ich und sah mich nach Talley um, während meine Hoffnung so dunkel wurde wie die Straße.
»Was?« Mein Fahrer lachte, als wäre ich völlig übergeschnappt.
»Sie wollen zum Leichenschauhaus und zur Ile Saint-Louis? Gibt's da eine Verbindung? Ist ein Reicher gestorben?« Ich begann mich über ihn zu ärgern. »Bitte«, sagte ich. »Fahren wir los.« »Okay, natürlich. Wie Sie wollen.«
Auf dem Kopfsteinpflaster machten die Reifen ein Geräusch wie Kesselpauken, und das Licht der Straßenlampen spiegelte sich auf der Seine wie ein Schwarm Silberfische. Ich wischte die beschlagene Fensterscheibe ab und öffnete sie, damit ich besser sehen konnte, als wir über die Pont Louis-Philippe auf die Insel fuhren. Sofort erkannte ich die Häuser aus dem siebzehnten Jahrhundert wieder, die einst die Stadthäuser des Adels gewesen waren. Ich war schon einmal mit Benton hier gewesen.
Wir waren durch die engen Kopfsteinpflastergassen spaziert und hatten manche der Schilder an den Mauern gelesen, auf denen stand, wer einst hier gelebt hatte. Wir hatten im Freien Kaffee getrunken und Eis bei Berthillon gekauft. Ich sagte dem Fahrer, er solle die Insel umrunden.
Überall standen großartige Gebäude aus verwittertem Kalkstein mit gusseisernen Balkonen. Fenster waren erleuchtet, und ich sah Balken, Bücherregale und Gemälde, aber keine Menschen.
Es war, als wäre die Elite, die hier lebte, für die gewöhnlichen Sterblichen unsichtbar.
»Haben Sie von der Familie Chandonne gehört?«, fragte ich den Fahrer.
»Aber natürlich«, antwortete er. »Wollen Sie sehen, wo sie wohnt?«
»Bitte«, sagte ich voller böser Ahnungen.
Er fuhr zum Quai d'Orleans, an dem Haus vorbei, in dem Pompidou gestorben war, und auf den Quai de Bethune in Richtung der östlichen Spitze der Insel. Ich kramte in meiner Tasche und holte ein Fläschchen Advil heraus.
Das Taxi blieb stehen. Ich spürte, dass dem Fahrer nicht daran gelegen war, noch näher an das Haus der Chandonnes heranzufahren.
»Dort um die Ecke«, sagte er, »dann gehen Sie zum Quai d'Anjou. Dort sehen Sie Türen mit geschnitzten Gämsen. Das ist die Residenz der Chandonnes, so muss man es wohl nennen. Selbst die Abflussrohre sind Gämsen. Wirklich beachtlich. Sie können es nicht übersehen. Und halten Sie sich fern von der Brücke am rechten Ufer«, sagte er. »Darunter treiben sich die Obdachlosen und Homosexuellen herum. Das ist gefährlich.«
Das hötel particulier, in dem die Familie Chandonne seit hunderten von Jahren lebte, war ein vierstöckiges Stadthaus mit mehreren Dachgauben und einem Oeil de Boeuf oder Bullauge im Dach. Die Tür war aus dunklem Holz, kunstvoll verziert mit geschnitzten Gämsen, und vergoldete schnellfüßige Gämsen bildeten Abflussrohre.
Ich bekam eine Gänsehaut, kauerte mich in den Schatten und starrte über die Straße auf die Höhle, die das Monster, das sich Loup-Garou nannte, hervorgebracht hatte. Durch die Fenster funkelten Kronleuchter, und in Bücherregalen standen hunderte von Büchern. Ich erschrak, als ich plötzlich eine Frau in einem Fenster sah. Sie war unglaublich dick und trug ein dunkelrotes Abendkleid mit weiten Ärmeln aus Seide oder Satin.
Ich schaute sie unverwandt an.
Ihre Miene zeugte von Ungeduld, ihre Lippen bewegten sich schnell, als sie mit jemandem sprach, und nahezu augenblicklich tauchte ein Mädchen mit einem Likörglas auf einem kleinen silbernen Tablett auf. Madame Chandonne oder wer immer diese Frau war, nippte an ihrem Drink und zündete sich mit einem silbernen Feuerzeug eine Zigarette an, bevor sie sich vom Fenster entfernte.
Ich ging bis zur Inselspitze, die einen knappen Block entfernt war, und von dem kleinen Park dort konnte ich gerade noch die Silhouette des Leichenschauhauses ausmachen. Es befand sich nur ein paar Kilometer flussaufwärts auf der anderen Seite der Pont Sully. Ich blickte auf die Seine hinaus und stellte mir vor, dass der Mörder der Sohn der fetten Frau war, die ich gerade gesehen hatte, dass er jahrelang hier nackt gebadet hatte, ohne dass sie es wusste, sein langes helles Haar vom Mondlicht
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