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Blinder Passagier

Blinder Passagier

Titel: Blinder Passagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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beschienen.
    Ich stellte mir vor, wie er nach Einbruch der Dunkelheit sein vornehmes Zuhause verließ und in diesen Park ging, um in dem Wasser zu baden, von dem er hoffte, dass es ihn heilen würde.
    Wie viele Jahre lang war er in dieses kalte schmutzige Wasser gewatet? Ich fragte mich, ob er sich am rechten Ufer herumgetrieben hatte, wo er die Menschen, die der Gesellschaft ebenso entfremdet waren wie er, beobachtete, sich vielleicht sogar unter sie mischte.
    Eine Treppe führte von der Straße zum Kai hinunter, und der Wasserstand war so hoch, dass der nach Abwässern riechende Fluss schmutzig über die alten Steine schwappte. Die Seine führte Hochwasser wegen des vielen Regens, die Strömung war stark, und gelegentlich schwamm eine Ente vorbei, obwohl Enten nachts eigentlich nicht schwimmen sollten. Gusseiserne Gaslampen glühten und warfen Muster goldener Flecken auf das Wasser.
    Ich schraubte das Advil-Fläschchen auf und leerte die Tabletten auf den Boden. Vorsichtig tastete ich mich die nassen glitschigen Steinstufen zum Kai hinunter. Ich spülte das Fläschchen aus und füllte es mit eiskaltem Wasser. Dann schraubte ich den Deckel wieder auf und kehrte zum Taxi zurück. Mehrmals sah ich mich nach dem Haus der Chandon-nes um und rechnete halbwegs damit, dass ein Mitglied des Verbrecherkartells mir nachsetzen würde.
    »Fahren Sie mich jetzt bitte zum Leichenschauhaus«, sagte ich zum Fahrer.
    Es war dunkel, und Stacheldraht, der mir tagsüber nicht aufgefallen war, reflektierte das Licht vorbeifahrender Autos.
    »Fahren Sie auf den Parkplatz«, sagte ich.
    Er bog vom Quai de la Rapee auf den kleinen Parkplatz hinter dem Gebäude, wo früher am Tag die Leichenwagen gestanden hatten und das trauernde Paar auf der Bank gewartet hatte. Ich stieg aus.
    »Bleiben Sie hier«, sagte ich zum Fahrer. »Ich will mich nur kurz umsehen.«
    Sein Gesicht war blass, und als ich ihn mir näher ansah, bemerkte ich, dass es voller Falten war und ihm mehrere Zähne fehlten. Er wirkte beunruhigt, sein Blick schweifte umher, als würde er überlegen, einfach davonzubrausen.
    »Ist schon in Ordnung«, sagte ich zu ihm, als ich mein Notizbuch aus der Tasche nahm.
    »Ach, Sie sind Journalistin«, sagte er erleichtert. »Sie arbeiten an einer Geschichte.«
    »Ja, genau.«
    Er grinste und hing halb aus dem offenen Fenster. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht, Madame! Ich dachte, Sie wären vielleicht eine Art Leichen fressender Geist!« »Bin gleich wieder da«, sagte ich.
    Ich schlenderte herum, spürte die feuchten, kalten alten Steine und die Luft, die vom Fluss heraufzog. Ich suchte die Dunkelheit der tiefen Schatten und interessierte mich für jedes Detail, als wäre ich er. Dieser Ort musste ihn fasziniert haben. Es war die Halle der Unehre, in der die Trophäen seiner Mordtaten ausgestellt waren, sie musste ihn an seine unantastbare Immunität erinnern. Er konnte tun, was immer er wollte, wann immer es ihm beliebte, und alle Beweise der Welt zurücklassen, und nichts konnte ihm etwas anhaben.
    Wahrscheinlich hatte er in zwanzig, dreißig Minuten von seinem Haus zum Leichenschauhaus gehen können, und ich stellte mir vor, wie er hier im Park saß, das alte Klinkergebäude anstarrte und sich ausmalte, was darin getan wurde, welche Arbeit er für Dr. Stvan herangeschafft hatte. Ich fragte mich, ob ihn der Geruch nach Tod erregt hatte.
    Eine leichte Brise berührte die Akazien und meine Haut, als ich im Geist noch einmal durchging, was Dr. Stvan mir über den Mann erzählt hatte, der vor ihrer Tür gestanden hatte. Er war gekommen, um sie zu töten, und es war ihm nicht gelungen.
    Am nächsten Tag war er hier gewesen und hatte ihr eine Nachricht hinterlassen.
    Pas la police Vielleicht stellten wir uns seinen Modus ope-randi viel zu kompliziert vor.
    Pas de probleme. Le Loup-Garou.
    Vielleicht empfand er einfach nur eine rasende mörderische Lust, die er nicht kontrollieren konnte. War das Monster in ihm einmal geweckt, hatte er keine Wahl mehr. Ich war sicher, dass er Dr. Stvan umgebracht hätte, wäre er noch in Frankreich. Als er nach Richmond geflohen war, hatte er möglicherweise gedacht, dass er sich eine Weile würde beherrschen können. Und vielleicht hatte er sich auch ein paar Tage beherrscht. Oder er hatte Kim Luong die ganze Zeit beobachtet und von ihr fantasiert, bis er dem mörderischen Trieb nicht mehr widerstehen konnte.
    Ich eilte zu meinem Taxi zurück. Die Fenster waren so beschlagen, dass ich nicht hineinsehen

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