Blinder Passagier
bist.« Auch ich wurde langsam ärgerlich.
»Woher willst du wissen, ob ich bereit bin oder nicht?«, sagte ich.
Der Kellner kam, um unsere Bestellung aufzunehmen, und entfernte sich diskret wieder. »Du verbringst zu viel Zeit in meinen Gedanken und vielleicht zu wenig in deinen eigenen.«
»Okay. Mach dir keine Sorgen. Ich werde nie wieder versuchen, deine Gefühle oder Gedanken vorwegzunehmen.«
»Ah. Du reagierst gereizt«, entgegnete ich. »Endlich verhältst du dich deinem Alter entsprechend.«
In seinen Augen funkelte es. Ich nippte an meinem Wein. Er trank sein zweites Glas aus.
»Auch mir steht Respekt zu«, sagte er. »Ich bin kein Kind mehr.
Was war das heute Nachmittag, Kay? Sozialarbeit? Wohltätigkeit? Sexualkundeunterricht? Bin ich ein Pflegefall?«
»Vielleicht sollten wir nicht gerade hier darüber reden«, meinte ich.
»Oder vielleicht hast du mich auch nur benutzt«, fuhr er fort.
»Ich bin zu alt für dich. Bitte, sprich leiser.«
»Alt ist meine Mutter, meine Tante. Die taube Witwe, die neben mir wohnt, die ist alt.«
Mir wurde klar, dass ich keine Ahnung hatte, wo Talley wohnte.
Ich hatte nicht einmal seine private Telefonnummer.
»Alt bist du, wenn du dich so verhältst wie jetzt, nämlich arrogant und von oben herab und feige«, sagte er und hob das Glas.
»Feige? Ich wurde schon viel genannt, aber noch nie feige.«
»Emotional bist du feige.« Er trank, als müsste er ein Feuer löschen. »Deswegen warst du mit ihm zusammen. Er stellte keine Gefahr dar. Mir egal, wie sehr du ihn angeblich geliebt hast. Er war nicht gefährlich.«
»Sprich nicht über etwas, wovon du nichts weißt«, warnte ich ihn und begann zu zittern.
»Weil du Angst hast. Du hast Angst, seitdem dein Vater gestorben ist, seitdem du meinst, dass du anders bist als alle anderen, weil du tatsächlich anders bist als alle anderen, und das ist der Preis, den Leute wie wir zahlen müssen. Wir sind etwas Besonderes. Wir sind einsam, glauben aber nicht, dass das daran liegt, dass wir etwas Besonderes sind. Wir glauben, dass mit uns etwas nicht stimmt.«
Ich legte meine Serviette auf den Tisch und schob meinen Stuhl zurück.
»Das ist das Problem mit Arschlöchern, die Informationen über andere Leute sammeln«, sagte ich mit leiser, ruhiger Stimme. »Ihr eignet euch die Geheimnisse, Schätze, Tragödien und Ekstasen eines Menschen an, als gehörten sie euch. Zumindest habe ich ein Leben. Zumindest lebe ich nicht als Voyeur durch andere Leute, die ich nicht kenne. Zumindest bin ich kein Spion.«
»Ich bin kein Spion«, sagte er. »Mein Job bestand darin, so viel wie möglich über dich herauszufinden.«
»Und das ist dir außerordentlich gut gelungen«, sagte ich getroffen. »Vor allem heute Nachmittag.«
»Bitte geh nicht«, sagte er, als er über den Tisch nach meiner Hand griff.
Ich wandte mich um und verließ das Restaurant, während andere Gäste mir nachstarrten. Jemand lachte und machte eine Bemerkung, die nicht übersetzt werden musste, damit ich sie verstand. Es lag auf der Hand, dass der gut aussehende junge Mann mit seiner älteren Freundin gestritten hatte. Vielleicht war er auch ihr Gigolo.
Es war fast halb zehn und ich marschierte entschlossen in Richtung meines Hotels, während es schien, dass alle anderen in der Stadt ausgingen. Eine Polizistin mit weißen Handschuhen regelte den Verkehr. Ich wartete in einer großen Menge, um den Boulevard des Capucines zu überqueren. Die Luft hallte wider von Stimmen, der Mond strahlte kalt. Vom Duft der Crepes und Beignets und Kastanien wurde mir das Herz schwer und schwindlig.
Ich hastete dahin wie ein Flüchtling, der nicht eingefangen werden wollte, und doch blieb ich an Straßenecken stehen, weil ich geschnappt werden wollte. Talley kam mir nicht nach. Als ich atemlos und verwirrt im Hotel anlangte, konnte ich weder die Vorstellung, Marino zu begegnen noch in mein Zimmer zu gehen, ertragen.
Ich stieg in ein Taxi, weil ich noch eine Sache zu erledigen hatte.
Ich würde es allein und nachts tun, weil ich verzweifelt und leichtsinnig war.
»Ja?«, sagte der Fahrer und drehte sich zu mir um. »Madame?«
Ich kam mir vor, als wären Teile von mir durcheinander geraten, und ich wusste nicht, wohin ich sie stecken sollte, weil ich mich nicht erinnern konnte, wo sie zuvor gewesen waren.
»Sprechen Sie Englisch?«, fragte ich.
»Ja.«
»Kennen Sie sich aus in der Stadt? Können Sie mir immer sagen, wo wir sind?« »Wo wir sind? Sie meinen jetzt?«
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