Blinder Passagier
konnte mich nicht erinnern, wann er das letzte Mal eine engstirnige Bemerkung hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung vom Stapel gelassen hatte.
»Aber Sie haben jeden Tag mit dem Tod zu tun«, beharrte Jo leise. »Erinnert Sie das nicht ... an das, was geschehen ist, wenn Sie sehen, dass es anderen passiert? Ich will nicht, also, ich will mich einfach nicht so vor dem Tod fürchten.«
»Es gibt keine Zauberformel«, sagte ich und stand auf. »Außer man lernt, nicht so viel nachzudenken.«
Die Pizza brutzelte, und ich schob einen großen Pfannenwender darunter.
»Riecht gut«, sagte Marino und blickte besorgt drein. »Meinst du, dass eine reicht?«
Ich machte eine zweite, dann ein dritte und zündete anschließend ein Feuer im großen Zimmer an. Wir saßen davor, bei ausgeschaltetem Licht. Marino hielt sich weiterhin an Bier. Lucy, Jo und ich tranken einen weißen Burgunder, der frisch und sauber schmeckte.
»Vielleicht solltest du dir jemand anders suchen«, sagte Lucy, die Schatten und Lichter des Feuers spielten auf ihrem Gesicht.
»Scheiße!«, brach es aus Marino heraus. »Was soll das jetzt?
Herzblatt? Wenn sie dir so was Persönliches erzählen will, wird sie es schon tun. Aber du solltest es nicht ansprechen. Das ist nicht nett von dir.«
»Das Leben ist auch nicht nett«, sagte Lucy. »Und was geht es dich an, ob sie Herzblatt spielt?«
Jo schaute schweigend ins Feuer. Ich hatte es allmählich satt und begann mich zu fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, den Abend allein zu verbringen. Auch Benton hatte nicht immer Recht gehabt.
»Erinnerst du dich, als Doris dich verlassen hat?«, fuhr Lucy fort.
»Was wäre gewesen, wenn die Leute dich nicht danach gefragt hätten? Wenn es allen egal gewesen wäre, was du tust oder wie es dir geht? Von dir aus hättest du bestimmt nichts gesagt. Das Gleiche gilt für die Idiotinnen, mit denen du seither ausgegangen bist. Jedes Mal, wenn's nicht funktioniert hat, mussten deine Freunde einspringen und die Sache für dich zurechtbiegen.«
Marino stellte die Bierflasche mit einem solchen Knall auf dem Kaminsockel ab, dass ich Angst hatte, die Schieferplatte würde zerbrechen.
»Vielleicht solltest du dran denken, demnächst erwachsen zu werden«, sagte er. »Willst du warten, bis du dreißig bist, bis du aufhörst, so ein verdammtes verstocktes Gör zu sein? Ich hol mir noch ein Bier.«
Er stolzierte aus dem Zimmer.
»Und noch eins will ich dir sagen«, wandte sich Marino zu ihr um, »Nur weil du Hubschrauber fliegst und Computer programmierst und Bodybuilding und lauter so verdammten Mist machst, heißt das noch lange nicht, dass du was Besseres bist als ich.«
»Das habe ich auch nie behauptet!«, schrie Lucy ihm nach.
»Na klar!«, tönte seine Stimme aus der Küche.
»Der Unterschied zwischen dir und mir ist, dass ich im Leben tue, was ich tun möchte«, rief sie. »Ich akzeptiere keine Einschränkungen.«
»Du steckst bis oben voller Scheiße, Agentin Arschloch.«
»Ah, jetzt kommen wir der Sache auf den Grund«, sagte Lucy, als er Bier schluckend wieder hereinkam. »Ich bin Bundesagentin, die gegen das große Verbrechen auf den großen Straßen der Welt kämpft. Und du trägst Uniform und fährst die ganze Nacht als Babysitterbulle herum.«
»Und du liebst Schusswaffen, weil du keinen Schwanz hast.«
»Und was wäre ich mit einem Schwanz? Ein Stativ?«
»Jetzt reicht's«, sagte ich laut. »Genug! Ihr beide solltet euch schämen. So daherzureden ... ausgerechnet heute ...«
Meine Stimme brach, und Tränen brannten in meinen Augen.
Ich war entschlossen, nicht wieder die Fassung zu verlieren, und entsetzt, dass mir das nicht länger zu gelingen schien. Ich wandte den Blick von ihnen ab. Schweigen hing schwer im Raum, das Feuer knisterte. Marino stand auf, entfernte den Schutzschirm, stocherte mit dem Schürhaken im Feuer herum und legte Holz nach.
»Ich hasse Weihnachten«, sagte Lucy.
9
Lucy und Jo flogen am nächsten Morgen früh zurück, und ich fürchtete die Leere, die einkehren würde, sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss fiele. Deswegen verließ ich mit ihnen das Haus, Aktentasche in der Hand. Ich wusste, dass mir ein grauenhafter Tag bevorstand.
»Ich wünschte, ihr könntet noch bleiben«, sagte ich. »Aber vermutlich wird Miami nicht überleben, wenn ihr noch einen Tag hier bleibt.«
»Miami wird wahrscheinlich sowieso nicht überleben«, sagte Lucy. »Aber dafür werden wir ja bezahlt - Kriege zu führen, die bereits
Weitere Kostenlose Bücher