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Blinder Passagier

Blinder Passagier

Titel: Blinder Passagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Sensibilität erschütterte mich. Es war, als spräche sie über Restaurants.
    »Normalerweise Leute, die einen natürlichen Tod gestorben sind oder sich selbst umgebracht haben. Die Familien stiften ihre Leichen der Anatomie.«
    Ihre Worte umschwebten mich wie Giftgas.
    »Es macht ihnen nichts aus, wenn Onkel Tim oder Cousine Beth vor einem Haufen Bullen seziert wird. Die meisten Familien können sich sowieso kein Begräbnis leisten und kriegen womöglich sogar was bezahlt, wenn sie die Leichen rausrücken, stimmt's, Tante Kay?«
    »Nein, das stimmt nicht, und Leichen, die der Wissenschaft freiwillig zur Verfügung gestellt werden, werden nicht für Demo-Autopsien verwendet«, sagte ich angeekelt. »Was ist bloß los mit dir?«
    Die Bäume streckten ihre kahlen Äste vor dem bewölkten Himmel aus wie Spinnenbeine, zwei Cadillacs fuhren vorbei. Ich spürte, dass die Leute darin uns ansahen.
    »Ich kann nur hoffen, dass du dieses abgebrühte Auftreten nicht zur Gewohnheit werden lässt.« Ich schleuderte ihr meine kalten Worte ins Gesicht. »Denn es klingt schon dumm genug, wenn unwissende, gehirnamputierte Leute so daherreden. Und um das klarzustellen, Lucy, ich habe dich bei drei Autopsien zusehen lassen, und auch wenn es niemand war, der mit der Axt abgeschlachtet wurde, hat es sich bei diesen Fällen um menschliche Wesen gehandelt. Diese drei toten Menschen waren geliebt worden. Diese drei toten Menschen hatten Gefühle. Liebe, Glück, Kummer. Sie haben gegessen, Urlaub gemacht, sind zur Arbeit gefahren.«
    »Ich wollte nicht -«, setzte Lucy an.
    »Du kannst sicher sein, dass diese drei armen Menschen, als sie lebten, nicht damit gerechnet haben, im Leichenschauhaus zu enden, wo zwanzig Polizistenschüler und ein Kind wie du ihre nackten aufgeschnittenen Körper anstarrten«, fuhr ich fort.
    »Wäre es dir recht, wenn sie gehört hätten, was du eben gesagt hast?«
    In Lucys Augen glitzerten Tränen. Sie schluckte und sah weg.
    »Tut mit Leid, Tante Kay«, sagte sie leise.
    »Meine Überzeugung war es immer, dass man sich vorstellen soll, die Toten würden jedes Wort hören, das man sagt. Vielleicht hören sie diese Pennälerwitze und kindischen Bemerkungen ja tatsächlich. Wir jedenfalls hören sie. Was bringt es dir, wenn du dich selbst oder jemand anders so reden hörst?«
    »Tante Kay -«
    »Ich werd's dir sagen«, fuhr ich wutentbrannt fort. »Du wirst genauso enden.«
    Ich machte eine Handbewegung, als wollte ich sie auf die Welt aufmerksam machen. Sie sah mich verblüfft an.
    »Du wirst das tun, was ich gerade tue«, sagte ich. »Auf der Einfahrt stehen, wenn die Sonne aufgeht. Dir jemanden, den du geliebt hast, in einem gottverdammten Leichenschauhaus vorstellen. Dir vorstellen, wie andere sich über ihn lustig machen, Witze reißen, die Größe seines Penis kommentieren oder wie sehr er stinkt. Vielleicht haben sie ihn auf dem Seziertisch etwas zu heftig herumgestoßen. Vielleicht hat jemand auf halber Strecke ein Handtuch über seinen leeren Brustkorb geworfen und ist zum Mittagessen gegangen. Und vielleicht haben Polizisten, die in einer anderen Sache rein- und rausgegangen sind, was von wegen krossen Knochen oder von FBI Flambe gefaselt.«
    Lucy und Jo starrten mich erstaunt an.
    »Glaubt bloß nicht, ich hätte das alles nicht auch schon gehört«, sagte ich, schloss die Wagentür auf und riss sie auf. »Ein Leben, das durch gleichgültige Hände geht, durch eiskalte Luft und kaltes Wasser. Alles ist kalt, kalt, kalt. Auch wenn er im Bett gestorben wäre, ist letztlich alles kalt. Also, erzähl mir nichts von Autopsien.«
    Ich stieg ein.
    »Komm mir nie mit so einem aufgesetzten Getue, Lucy.« Ich konnte nicht aufhören.
    Meine Stimme schien aus einem anderen Raum zu kommen.
    Mir ging sogar durch den Sinn, dass ich dabei war, den Verstand zu verlieren. War es nicht so, wenn Leute verrückt wurden? Sie hatten das Gefühl, neben sich zu stehen und zuzusehen, wie sie Dinge taten, die sie normalerweise nie tun würden, zum Beispiel, wie sie jemanden umbrachten oder vom Fensterbrett sprangen.
    »Diese Dinge kriegt man nie wieder aus dem Kopf«, sagte ich.
    »Sie klappern für immer in deinem Schädel herum. Es stimmt nicht, dass Worte einen nicht zutiefst verletzen können. Deine haben mich gerade entsetzlich verletzt«, sagte ich zu meiner Nichte. »Flieg zurück nach Miami.«
    Lucy stand da wie gelähmt, als ich den Gang einlegte und davonfuhr, ein Hinterreifen knallte über den Bordstein aus

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