Blinder Passagier
ergeben.«
Die 0.08 besagten nicht viel, da sich auch im Gehirn keine Alkoholspuren gefunden hatten. Vielleicht hatte der Mann etwas getrunken, bevor er starb, oder vielleicht handelte es sich um postmortem, von Bakterien generierten Alkohol. Wir hatten keine Körperflüssigkeiten zum Vergleich, keinen Urin, kein Blut, keine Augen- oder Glaskörperflüssigkeit, was jammerschade war.
Wenn die 0.08 einen realen Alkoholwert anzeigten, bedeutete das lediglich, dass der Mann in seiner Reaktionsfähigkeit etwas beeinträchtigt und deshalb verletzlicher gewesen war.
»Was wirst du auf den Totenschein schreiben?«, fragte Marino.
»Akute Seekrankheit.« Ruffin schlug mit einem Handtuch nach einer Fliege.
»Allmählich gehen Sie mir ziemlich auf den Keks«, warnte Marino ihn.
»Todesursache ungewiss«, sagte ich. »Todesart Mord. Das ist kein armer Hafenarbeiter, der aus Versehen in einen Container gesperrt wurde. Chuck, ich brauche eine chirurgische Schale.
Stellen Sie sie hier auf die Abstellfläche, und bevor der Tag zu Ende geht, werden wir miteinander reden müssen.«
Blitzartig wandte er den Blick von mir ab. Ich zog meine Handschuhe aus und rief Rose an.
»Könnten Sie ins Archiv gehen und eins meiner alten Schneidbretter aus Kork holen?«, bat ich sie.
Das Arbeits- und Gesundheitsministerium hatte entschieden, dass alle Bretter mit Teflon beschichtet sein mussten, denn poröse Bretter wurden leicht kontaminiert. Das war angebracht, wenn man mit lebenden Patienten arbeitete oder Brot buk. Ich fügte mich, aber das hieß nicht, dass ich alle alten Dinge wegwarf.
»Und ich brauche Haarnadeln«, fuhr ich fort. »In der obersten Schublade meines Schreibtischs sollte eine kleine Plastikschachtel mit Haarnadeln sein. Außer jemand hätte auch die gestohlen.«
»Kein Problem«, sagte Rose.
»Ich glaube, die Bretter liegen ganz unten im Regal hinten im Lagerraum, neben den Schachteln mit den alten gerichtsmedizinischen Handbüchern.«
»Sonst noch was?«
»Lucy hat vermutlich nicht angerufen?«, sagte ich.
»Noch nicht. Wenn sie's tut, melde ich mich.«
Ich dachte einen Augenblick nach. Es war nach ein Uhr. Sie war inzwischen wieder in Miami und hätte anrufen können. Niedergeschlagenheit und Angst überkamen mich.
»Schicken Sie Blumen in ihr Büro«, sagte ich. »Mit einer Karte, auf der steht: Danke für den Besuch, alles Liebe, Tante Kay.«
Schweigen.
»Sind Sie noch da?«, fragte ich meine Sekretärin. »Sind Sie sicher, dass das drauf stehen soll?«, fragte sie. Ich zögerte.
»Schreiben Sie, dass ich sie liebe und es mir Leid tut.«
14
Normalerweise hätte ich einen Textmarker benutzt, um das Stück Haut zu kennzeichnen, dass ich entfernen wollte, aber in diesem Fall war das auf Grund der fortgeschrittenen Verwesung der Leiche nicht möglich. Ich versuchte es mit einem fünfzehn Zentimeter langen Plastiklineal, maß vom Halsansatz die rechte Schulter, denn hinunter bis zum Rand des Schulterblatts und wieder zurück.
»Einundzwanzig mal achtzehn mal fünf mal zehn«, diktierte ich Ruffin.
Haut ist elastisch. Kaum ist sie herausgeschnitten, zieht sie sich zusammen, deswegen musste ich sie auf ihre ursprünglichen Ausmaße spannen, als ich sie auf dem Korkbrett mit den Haarnadeln befestigte, sonst wäre die Tätowierung verzerrt.
Marino war gegangen, und meine Kollegen arbeiteten in ihren Büros oder im Autopsiesaal. Hin und wieder erschien auf dem Bildschirm ein Wagen, der eine Leiche brachte oder abholte.
Ruffin und ich waren allein hinter der geschlossenen Stahltür im Autopsieraum für die verwesten Leichen. Ich wollte ihn in ein Gespräch verwickeln.
»Wenn Sie zur Polizei wollen«, sagte ich, »nur zu.«
Glas klackte, als er saubere Blutröhrchen in ein dafür vorgesehenes Gestell steckte.
»Aber wenn Sie hier bleiben wollen, Chuck, dann müssen Sie anwesend, zuverlässig und respektvoll sein.«
Ich nahm ein Skalpell und eine Zange und sah ihn an. Er schien damit gerechnet zu haben, dass ich so etwas sagen würde, und hatte bereits eine Antwort parat.
»Ich bin vielleicht nicht vollkommen, aber ich bin zuverlässig«, sagte er.
»Zur Zeit nicht. Ich brauche noch mehr Klammern.«
»Es ist eine Menge los«, sagte er, als er die Klammern von einem Tablett nahm und sie mir hinstellte. »In meinem persönlichen Leben, meine ich. Meine Frau, das Haus, das wir gekauft haben.
Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Probleme wir damit haben.«
»Es tut mir Leid, wenn Sie in
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