Blinder Passagier
Schwierigkeiten sind, aber ich bin für die Gerichtsmedizin von ganz Virginia zuständig. Offen gesagt, ich habe keine Zeit für Ausreden. Wenn Sie Ihren Teil nicht beitragen können, dann haben wir ein großes Problem. Ich will nicht noch mal ins Leichenschauhaus kommen und feststellen müssen, dass Sie nichts vorbereitet haben. Ich will kein einziges Mal mehr nach Ihnen suchen müssen.«
»Wir haben bereits ein großes Problem«, sagte er, als wäre das der Schuss, den er schon die ganze Zeit hatte abfeuern wollen.
Ich begann mit dem Einschnitt.
»Sie wissen es nur nicht«, fügte er hinzu.
»Warum erzählen Sie mir dann nicht, worin dieses große Problem besteht, Chuck?«, sagte ich. Ich schlug die Haut des toten Mannes bis zur subkutanen Schicht zurück. Ruffin sah zu, wie ich abgelöste Ränder festklammerte, um die Haut gespannt zu halten. Ich hielt inne und blickte ihn über den Tisch hinweg an.
»Nur zu«, sagte ich. »Reden Sie.«
»Ich glaube nicht, dass Sie es von mir erfahren sollten«, sagte Ruffin, und ich sah etwas in seinen Augen, was mir auf die Nerven ging. »Sehen Sie, Dr. Scarpetta. Ich weiß, dass ich nicht gerade der Pünktlichste war. Ich weiß, dass ich mich manchmal davongemacht habe, weil ich zu Vorstellungsgesprächen musste, und vielleicht nicht so zuverlässig war, wie ich hätte sein sollen. Und mit Marino komme ich nicht aus. Das alles gebe ich zu. Aber ich werde Ihnen sagen, was niemand sonst Ihnen sagen wird, wenn Sie versprechen, mich nicht dafür zu bestrafen.«
»Ich bestrafe Leute nicht dafür, dass sie ehrlich sind«, sagte ich und ärgerte mich, dass er es mir unterstellte.
Er zuckte die Achseln, und ich sah Selbstzufriedenheit in seinen Augen aufflackern, weil er mich getroffen hatte und es wusste.
»Ich strafe nicht, Punkt«, sagte ich. »Ich erwarte von den Leuten schlicht und einfach, dass sie tun, was richtig ist, und wenn sie das nicht tun, bestrafen sie sich selbst. Wenn Sie Ihren Job verspielen, ist das Ihre Schuld.«
»Vielleicht habe ich das falsche Wort benutzt«, erwiderte er, trat zurück, lehnte sich an die Theke und verschränkte die Arme.
»Ich kann mich nicht so gut ausdrücken wie Sie, das steht fest.
Ich will nur nicht, dass Sie wütend auf mich werden, wenn ich kein Blatt vor den Mund nehme. Okay?« Ich schwieg.
»Allen tut es Leid, was letztes Jahr passiert ist«, hob er an. »Niemand kann sich vorstellen, wie Sie damit fertig geworden sind.
Wirklich. Ich meine, wenn jemand meiner Frau so was antäte, ich wüsste nicht, was ich tun würde, besonders bei so was, wie es Spezialagent Wesley passiert ist.«
Ruffin hatte von Benton immer als »Spezialagent« gesprochen, was ich ziemlich albern gefunden hatte. Wenn jemand überhaupt nicht überheblich gewesen war, wenn jemand unter dem Titel gelitten hatte, dann Benton. Aber während ich über Marinos verächtliche Bemerkungen über Ruffins Vorliebe für Verbrechensbekämpfung nachdachte, verstand ich ihn besser.
Meinem schmächtigen, schwachen LeichenschauhausAufseher hatte ein altgedienter FBI-Agent vermutlich Ehrfurcht abgenötigt, vor allem einer, der psychologische Täterprofile erstellte, und mir ging durch den Kopf, dass Ruffins früheres tadelloses Verhalten mehr mit Benton als mit mir zu tun gehabt hatte.
»Es hat uns alle mitgenommen«, sagte Ruffin. »Er ist oft runtergekommen und hat mit uns Pizza gegessen, Witze gemacht und gequatscht. Ein großer wichtiger Mann wie er und überhaupt kein Dünkel. Das hat mich vom Stuhl gehaun.«
Stücke aus Ruffins Vergangenheit rückten an ihren Platz. Sein Vater war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Ruffin noch ein Kind war. Er wurde von seiner Mutter großgezogen, einer wunderbaren intelligenten Lehrerin. Auch seine Frau war stark, und jetzt arbeitete er für mich. Ich fand es immer faszinierend, dass so viele Menschen an die Schauplätze ihrer kindlichen Verbrechen zurückkehren, sich immer wieder den gleichen Bösewicht suchen, in seinem Fall eine weibliche Autoritätsperson wie ich.
»Alle behandeln Sie wie ein rohes Ei«, fuhr Ruffin fort. »Deswegen sagt niemand etwas, wenn Sie unaufmerksam sind und alles Mögliche passiert, wovon Sie nichts mitkriegen.«
»Zum Beispiel?«, fragte ich, als ich mit dem Skalpell vorsichtig eine Ecke ablöste.
»Also, zum einen gibt es hier einen verdammten Dieb«, antwortete er. »Und ich wette, es ist jemand vom Personal. Seit Wochen wird geklaut, und Sie haben nichts dagegen
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