Blinder Passagier
Tagen. Und es ist nicht gerade eine freundliche Umgebung, in die Sie zurückgekehrt sind. Tragödien, Tod.«
Ich schwieg, während ich um meine Fassung kämpfte. Ich war in einer dunklen Höhle gewesen und erinnerte mich kaum noch daran, wie ich Bentons Asche in Hilton Head, das er so liebte, ins Meer gestreut hatte. Ich erinnerte mich kaum noch daran, wie ich seine Eigentumswohnung dort ausräumte, dann seine Schubladen und seinen Schrank bei mir zu Hause. Mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit entfernte ich sofort, was ich irgendwann einmal würde weggeben müssen.
Wäre Dr. Anna Zimmer nicht gewesen, hätte ich nicht überlebt.
Sie war eine ältere Frau, eine Psychiaterin, mit der ich seit Jahren befreundet war. Ich hatte keine Ahnung, was sie mit Bentons edlen Anzügen, Krawatten und Lederschuhen machte. Ich wollte nicht wissen, was mit seinem BMW geschehen war. Aber am wenigsten wollte ich erfahren, was mit der Wäsche aus unserem Bad und Schlafzimmer passiert war.
Anna war klug genug gewesen, alle wichtigen Dinge aufzuheben. Seine Bücher und seinen Schmuck, seine Zeugnisse und Auszeichnungen, die an den Wänden seines Arbeitszimmers bei mir zu Hause hingen, weil er so bescheiden gewesen war und nicht wollte, dass jemand sie sah. Sie ließ nicht zu, dass ich die Fotos, die überall standen, entfernte, weil sie meinte, dass es wichtig für mich wäre, mit ihnen zu leben.
»Du musst mit der Erinnerung leben«, sagte sie mir wiederholt mit ihrem schweren deutschen Akzent. »Sie ist noch immer da, Kay. Davor kannst du nicht davonlaufen. Versuch es erst gar nicht.«
»Auf einer Skala von null bis zehn, wie depressiv sind Sie, Kay?«, hörte ich Dr. Wagners Stimme im Hintergrund.
Ich war noch immer gekränkt und unfähig zu akzeptieren, dass sich Lucy während dieser Zeit nicht hatte blicken lassen. Benton hatte mir in seinem Testament seine Eigentumswohnung hinterlassen, und Lucy war wütend auf mich, weil ich sie verkaufte, obwohl sie ebenso gut wie ich wusste, dass weder sie noch ich sie jemals wieder würden betreten können. Als ich ihr seine geliebte, abgewetzte Bomberjacke gab, die er im College getragen hatte, sagte sie, dass sie sie nicht wolle, dass sie sie verschenken würde. Ich wusste, dass sie es nicht getan hatte. Ich wusste, dass sie sie irgendwo versteckte.
»Es ist keine Schande, es zuzugeben. Ich glaube, es fällt Ihnen schwer, sich einzugestehen, dass Sie auch nur ein Mensch sind«, hörte ich Dr. Wagner jetzt deutlicher.
Ich sah wieder klar.
»Haben Sie daran gedacht, ein Antidepressivum zu nehmen?«, fragte er. »Etwas Mildes wie Wellbutrin?«
Ich wartete noch einen Augenblick, bevor ich sprach.
»Zum einen, Sinclair«, sagte ich, »ist eine situationsbedingte Depression normal. Ich brauche keine Pillen, um meine Trauer wegzuzaubern. Ich mag stoisch sein. Es mag mir schwer fallen, Gefühle zu zeigen, meine tiefsten Gefühle, und ja, es ist einfacher für mich zu kämpfen, wütend zu werden und mein Soll überzuerfüllen, als Schmerz zu zeigen. Aber ich verdränge nicht. Ich habe genug gesunden Menschenverstand, um zu wissen, dass Trauer einfach Zeit braucht. Und es macht es nicht gerade leichter, wenn diejenigen, denen du vertraust, an dem bisschen herumkratzen, das dir im Leben noch geblieben ist.«
»Sie haben gerade von der ersten Person zur zweiten Person gewechselt«, sagte er. »Ich frage mich, ob Sie sich dessen bewusst sind, dass -«
»Sezieren Sie mich nicht, Sinclair.«
»Kay, lassen Sie mich das Bild der Tragödie, der Gewalttätigkeit malen, das diejenigen nie sehen, die nie davon betroffen waren«, sagte er. »Eine Tragödie hat ein Eigenleben. Sie arbeitet in einem, läuft heimlich Amok, hinterlässt Wunden, die mit der Zeit weniger sichtbar sind.«
»Ich sehe jeden Tag Tragödien«, sagte ich.
»Was ist, wenn Sie in den Spiegel sehen?«, fragte er.
»Sinclair, es ist schrecklich genug, einen Verlust zu erleiden, aber wenn dich alle misstrauisch beobachten und an deinen Fähigkeiten, weiter zu funktionieren, zweifeln, dann wird alles noch schlimmer, weil du getreten und gering geachtet wirst, wenn es dir sowieso schon schlecht geht.«
Er hielt meinem Blick stand. Ich hatte wieder in der sicheren zweiten Person gesprochen und ich sah ihm an, dass es ihm erneut aufgefallen war.
»Grausamkeit gedeiht, wo sie Schwäche wittert«, fügte ich hinzu.
Ich kannte das Böse. Ich roch es und erkannte seine Züge, wenn es sich in meiner Umgebung aufhielt.
»Jemand benutzt,
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