Blinder Passagier
ich. »Aber nicht die Person, die sie hatte.«
»Moment«, sagte er. »Okay, okay, verstehe ich richtig. Sie haben sie aus dem Toten rausgeschnitten.«
»Verkraften Sie das?«
»Himmel, ja. Ich verkrafte alles.«
»Wann?«
»Wie wär's gleich?«
Ich legte auf und war überrascht, Ruffin in der Tür stehen zu sehen. Ich hatte das Gefühl, dass er schon eine ganze Weile dort stand, mich beobachtete und mir zuhörte, da ich ihm den Rücken zugekehrt hatte, während ich mir Notizen machte. Er sah müde aus, seine Augen waren gerötet, als hätte er die halbe Nacht getrunken.
»Sie sehen schlecht aus, Chuck«, sagte ich ohne großes Mitgefühl.
»Ich würde gern nach Hause gehen«, sagte er. »Ich glaube, ich werde krank.«
»Tut mir Leid, das zu hören. Es geht ein neuer, überaus ansteckender Virus um, er wird angeblich übers Internet übertragen.
Er heißt der Halb-Sieben-Virus.«, sagte ich. »Die Leute rasen von der Arbeit nach Hause und setzen sich vor ihren PC. So sie einen haben.«
Ruffin wurde blass.
»Klingt ziemlich komisch«, sagte Gara. »Aber das mit halb sieben verstehe ich nicht.«
»Das ist die Zeit, wenn sich alle Welt bei AOL einloggt«, erklärte ich. »Natürlich können Sie nach Hause gehen, Chuck. Ruhen Sie sich aus. Ich gehe mit Ihnen raus. Vorher müssen wir noch die Tätowierung mitnehmen.«
Ich hatte sie von dem Korkbrett entfernt und in ein Glas mit Formalin gelegt.
»Es heißt, es soll ein wirklich schräger Winter werden«, sagte Ruffin im Plauderton. »Heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit habe ich Radio gehört. An Weihnachten soll es einen richtigen Kälteeinbruch geben, und im Februar soll es wieder warm werden wie im Frühling.«
Ich öffnete die automatische Tür zum Verwestenraum, in dem Kriminaltechniker Larry Posner von der Spurensicherung und ein Student die Kleider des toten Mannes untersuchten.
»Ich freue mich immer, Sie zu sehen«, begrüßte ich sie.
»Also ich muss zugeben, dass Sie uns wieder mal eine harte Nuss zu knacken gegeben haben«, sagte Posner, als er mit einem Skalpell Schmutz von einem Schuh kratzte und auf ein weißes Blatt Papier übertrug. »Sie kennen Carlisle?«
»Bringt er Ihnen etwas bei?«, fragte ich den jungen Mann.
»Hin und wieder«, sagte er.
»Wie geht's, Chuck?«, sagte Posner. »Sie sehen nicht besonders aus.«
»Geht so.« Chuck machte weiter auf krank. »Tut mir Leid wegen der Polizei«, sagte Posner und lächelte mitfühlend. Ruffin war sichtlich erschüttert. »Bitte?«, sagte er.
Posner wirkte verlegen, als er antwortete. »Ich habe gehört, dass es mit der Ausbildung nichts wird. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie sich nicht entmutigen lassen sollen.«
Ruffins Blick schweifte zum Telefon.
»Die meisten wissen es nicht«, fuhr Posner fort und wandte sich dem zweiten Schuh zu. »Ich bin bei den zwei ersten Prüfungen in Chemie durchgefallen.«
»Wirklich«, murmelte Ruffin.
»Und das erzählen Sie jetzt.« Carlisle heuchelte Entsetzen und Widerwillen. »Und mir hat man gesagt, dass hier die besten Leute der Welt arbeiten. Ich will mein Geld zurück.«
»Ich muss Ihnen was zeigen, Dr. Scarpetta«, sagte Posner und schob sein Visier zurück.
Er legte das Skalpell weg, faltete das Blatt Papier wie ein Juwelier und ging zu der schwarzen Jeans, an der Carlisle arbeitete.
Sie lag sorgfältig ausgebreitet auf einer mit Papier bedeckten Bahre. Der Bund war nach außen gekehrt, und Carlisle entfernte vorsichtig mit einer spitzen Zange Haare.
»Das ist wirklich verdammt merkwürdig«, sagte Posner und deutete mit einem behandschuhten Finger, während sein Student den Bund der Jeans vorsichtig ein paar Zentimeter weiter umschlug. Mehr Haare kamen zum Vorschein.
»Wir haben Dutzende davon eingesammelt«, sagte Posner zu mir. »Wir haben den Bund umgeschlagen und fanden im Schritt wie erwartet Schamhaare. Aber diese blonden Haare. Und je weiter wir uns nach unten vorarbeiten, desto mehr werden es.
Das ergibt keinen Sinn.«
»Nein, anscheinend nicht«, pflichtete ich ihm bei.
»Vielleicht ein Tier, eine Perserkatze?«, sagte Carlisle.
Ruffin öffnete einen Schrank und nahm das Plastikglas mit Formalin heraus, in dem sich die Tätowierung befand.
»Vielleicht hat sie auf der Jeans geschlafen, als sie auf links war«, fuhr Carlisle fort. »Manchmal kriege ich meine Jeans kaum runter, so dass die Innenseite außen ist. Ich werfe sie auf einen Stuhl, und mein Hund liebt es, auf meinen Sachen zu schlafen.«
»Vermutlich ist
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