Blinder Rausch - Thriller
Platz von Denise. Heute Morgen haben die meisten aus der Klasse erzählt, dass Denises Mutter gestern bei ihnen angerufen hat.
»Hackedicht war die«, lachten einige. Leonie und Hanna lachten nicht mit.
In der zweiten Pause laufen sie untergehakt über den Schulhof. Hanna genießt es, Leonie wieder allein für sich zu haben. Da brauchen sie nicht viel zu reden. Insgeheim ist Leonie erleichtert, dass sie Frederik nicht zu sehen bekommt. Nur noch zwei Schulstunden sind zu überstehen. Sie fühlt sich inzwischen etwas zuversichtlicher, dass es ihr gelingen kann, den »black friday«, wie sie den Tag inzwischen für sich getauft hat, zu vergessen. In der fünften Stunde haben sie Deutsch bei dem Wolters. Ein Gedicht zum Thema Stadt. Einige melden sich. Andere unterhalten sich mit ihren Nachbarn oder spielen mit den Handys. Der Wolters bemerkt immer nur die Schüler, die gerade mitmachen. Die andern blendet er aus. Plötzlich klopft es irgendwo. Es dauert einen Moment, bis sie merken, dass es von der Tür kommt. Die wird auch gleich geöffnet. Herr Stahlberg, der Schulleiter, kommt herein, gefolgt von Frau Landmann und weiteren Personen. Sofort wird es still in der Klasse.
Herr Stahlberg schaut sich suchend um und entdeckt Herrn Wolters, der sich über das Heft einer Schülerin beugt und mit ihr diskutiert. Inzwischen ist es so leise, dass man nur noch die Worte des Lehrers hört. »Der peilt einfach mal wieder gar nichts«, flüstert Andy grinsend. Ganz ungewohnt gibt es keinen Kommentar von Oliver. Leonie fällt auf, dass er schon den ganzen Morgen sehr in sich gekehrt und blass wirkt. Endlich hat auch der Wolters etwas gemerkt. Er wendet sich um und versucht ein freundliches Lächeln: »Oh, guten Morgen, unverhoffter Besuch …« Weiter kommt er nicht, denn inzwischen hat auch er gemerkt, dass die Mienen der Besucher wie versteinert wirken. Frau Landmann versucht mit zurechtweisenden Blicken noch einige Schüler zur Raison zu bringen, die sich daraufhin aufrecht auf ihre Plätze setzen und die Handys in den Taschen verschwinden lassen. Herr Stahlberg erhebt das Wort: »Guten Morgen, liebe Schülerinnen und Schüler der Klasse 9f …« Er wird davon unterbrochen, dass einige Schüler daraufhin automatisch in den gleichmäßigen Singsang »Guten Morgen Herr Stahlberg« einfallen. Herr Stahlberg winkt ab. »Schon gut, das reicht. Ich möchte euch zunächst die Personen vorstellen, die mich hier begleiten. Frau Landmann, eure Klassenlehrerin, kennt ihr ja und manche von euch auch Herrn Dr. Winter, den für uns zuständigen Schulpsychologen. Neben ihm steht Frau Dr. Kratz, ebenfalls vom schulpsychologischen Dienst. Der Herr und die Dame hier neben mir, die stellen sich euch jetzt am besten selbst vor, denn sie möchten mit euch etwas Wichtiges besprechen. Bitte, sehr!« Mit einer ausladenden Handbewegung überlasst er die Schüler seinen Begleitern.
Leonie hat plötzlich ein Gefühl, als zöge ihr etwas den Hals zu. Eine dunkle Vorahnung entsteht in ihr, nämlich dass etwas Entsetzliches passiert sein muss und dass es etwas mit diesem verdammten Freitag zu tun hat. Im Grunde also auch mit ihr. Woher diese Gewissheit auf einmal kommt, kann sie nicht erklären. Vielleicht, weil die Pistolenhalfter an den Gürteln des Mannes und der Frau sie deutlich als Polizisten ausweisen. Vielleicht, weil die Anwesenheit zweier Schulpsychologen etwas sehr Ungewöhnliches ist. Vielleicht aber auch, weil sie Frau Landmann kennt, und weiß, dass diese selbst bei der schlimmsten Missetat irgendwo immer ein kleines versöhnliches Zwinkern in den Augen hat, das jetzt vollständig fehlt.
Der Mann stellt sich als Hauptkommissar Lindemann vor und seine Begleiterin als Kommissarin Anja Wiesner. Sie lächelt freundlich in die Klasse. Sie ist etwa Ende Zwanzig, hat langes dunkles Haar, trägt Jeans und wirkt selbst noch ein wenig wie eine Schülerin. Daher wirkt die schusssichere Weste, die sie über ihrer kurzärmeligen Sommerbluse trägt, etwas unpassend, aber umso beängstigender. Lindemann ist etwas kleiner als sie. Über seinem Gürtel wölbt sich unter dem hellblauen Hemd ein leichter Bauchansatz. Er trägt keine Weste. Seine dunklen kurz geschnittenen Haare sind silbergrau durchwirkt und zeigen deutliche Geheimratsecken. Er mochte im Alter der meisten Lehrer sein. So zwischen 40 und 50, schätzt Leonie. Eigentlich möchte sie jetzt davonlaufen, sie will nicht hören, was jetzt gesagt werden wird, und weiß, dass sie sitzen bleiben muss.
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