Blinder Rausch - Thriller
erklären kannst, dann tue es!«, schluchzt Marianne. Leonie kann nichts mehr sagen. Sie drückt die rote Taste und legt das Handy weg. Niklas sagt denen nichts mehr. Das ist ja völlig verrückt. Er ist der Einzige, dem ich den Ablauf des Abends komplett erzählt habe. Fast jedenfalls. Er könnte ihnen erklären, wie die Blutspuren ins Badezimmer und das Shirt in die Tonne gekommen sind. Aber er tut das nicht. Er will mich nicht reinreißen. – So geht das nicht. Ich muss zur Polizei. Und Frederik? Ich habe versprochen, ihn herauszuhalten. So ein Mist! Wie ich es mache, ist es falsch! Helfe ich dem einen, lass ich den anderen über die Klinge springen. Was soll ich bloß tun?
Leonie schaut auf die große Uhr mit dem weißen Ziffernblatt, die über der Glastür hängt. Statt Zahlen gibt es schwarze Striche. Der Sekundenzeiger ruckt gleichmäßig vorwärts. Viele Runden hat er schon unter Leonies Beobachtung gedreht. Jetzt passiert er die zwölf und nimmt den Minutenzeiger mit. Es ist Punkt zehn Uhr. Seit einer Stunde sitzt Leonie auf dem Flur des Polizeipräsidiums. Mehrfach hat sie sich schon überlegt, einfach wieder zu gehen. Doch unten an der Pforte hat sie gesagt, dass sie eine Aussage machen möchte. Inzwischen hat sie viel Zeit gehabt, sich die Geschichte zurechtzulegen. Erleichtert konnte sie schließlich feststellen, dass sie über eine Variante verfügt, die Niklas entlastet, ohne Frederik zu verraten.
Wenig später sitzt sie auf einem unbequemen Holzstuhl neben dem Schreibtisch von Kommissar Lindemann in einem winzigen Büro. Die Tischplatte ist überladen mit Aktenstapeln, zwischen denen der Schirm des Computers halb verdeckt herausragt, wie das Segel eines untergehenden Schiffes. An Lindemanns Schreibtisch schließt längs ein weiterer Schreibtisch an. Der wirkt etwas aufgeräumter und hat auch noch Platz für eine Vase mit bunten Sommerblumen. Hinter dem Computer sitzt dort die dunkelhaarige Kollegin mit Pferdeschwanzfrisur, deren Namen Leonie vergessen hat. Zu hören ist momentan nur das leise Klickern ihrer schmalen, langen Finger auf der Tastatur.
Lindemann kauert auf seinem Stuhl. Durch seine gedrungene Gestalt und die hängenden Wangen erinnert er Leonie an eine Bulldogge. Mit vorgeschobener Unterlippe schaut er auf seine Schreibtischunterlage aus Papier, wo er mit einem gut gespitzten Bleistift kleine Kringel aufmalt. Leonie beobachtet ihn kritisch. Auf der Oberseite seiner Finger hat er schwarze Härchen.
Die Geräusche der Tastatur verstummen. »So, fertig«, sagt die Frau. Lindemann wendet sich an Leonie. »Meine Kollegin liest dir jetzt noch einmal deine Aussage vor. Du kannst dann noch etwas ergänzen oder ändern. Danach werde ich dir dazu ein paar Fragen stellen.« Leonie nickt. So ist das also. Eigentlich hat sie gleich damit gerechnet, Fragen zu hören. Doch der Polizist hatte sie reden lassen, einfach nur reden und die Kollegin hatte mitgeschrieben. Darauf war Leonie nicht eingestellt. Sie musste immer wieder in Gedanken überprüfen, ob ihre Geschichte noch plausibel klang. Nachkorrekturen wären einfacher gewesen, wenn er dazwischengefragt hätte. Aber vielleicht war genau das seine Taktik. Er glaubt mir nicht, denkt Leonie und rätselt, an welcher Stelle ihre Geschichte unwahr geklungen haben könnte. Die Kollegin, die Lindemann mit Anja angesprochen hat, liest vor:
Am Abend des 18 . August besuchte ich meine Freundin Hanna Jensen, wohnhaft Schumannstraße 25 . Wir unterhielten uns und hörten Musik. Gegen 22 Uhr verließ ich die Wohnung, um mich auf den Nachhauseweg zu begeben. Vor meiner Haustür in der Parkstraße 12 traf ich zu meiner Überraschung auf meine Klassenkameradin Denise Weisel, die das Haus gerade verließ. Sie erzählte mir, dass sie bei einem Basketballspiel in der Sporthalle Mitte gewesen sei und unseren Schulkameraden Sercan Ciftci und Niklas Mettner zugeschaut habe. Eigentlich hatte sie den Abend mit Niklas Mettner, ebenfalls wohnhaft Parkstraße 12 , verbringen wollen, doch sie habe es sich anders überlegt. Ich erzählte ihr, dass meine Eltern damit rechnen würden, dass ich bei Hanna übernachte, und wir beschlossen gemeinsam, noch etwas zu unternehmen. Denise meinte, sie kenne ein paar Leute, die abends im Stadtpark abhängen würden, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr dorthin zu gehen. Da ich wie sie keine Lust hatte, nach Hause zu gehen, ging ich mit Denise in den Park. Dort trafen wir an einer Parkbank am See eine Gruppe von Jugendlichen, die Denise
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