Blinder Rausch - Thriller
Leonie schlimmer als der vorherige. Die Polizistin, deren vollen Namen, Anja Wiesner, Leonie schließlich auf dem Türschild erspäht hatte, war mit ihr in die Klinik gefahren zu einer Frauenärztin. An ihr Gesicht kann Leonie sich nicht mehr erinnern, nur an ihre kleinen Hände, die sich mit einem leisen Knistern die hauchdünnen Latexhandschuhe überziehen, an den Desinfektionsgeruch in dem schwülen Raum und das Klirren der Instrumente in einer Edelstahlschale.
Als sie während der Untersuchung einen Druck auf den Oberschenkeln spürte, jagte ihr plötzlich ein Erinnerungsfetzen durch den Kopf. Sie hörte wieder den Ohrwurm, spürte ein bleischweres Gewicht auf dem Leib, das sich in einen gleißenden Schmerz verwandelte. Grelle Lichtringe tanzten vor ihren Augen.
Dann war sie plötzlich wieder zurück in dem Untersuchungsraum. Die Stimme der Ärztin hallte nach. Sie musste etwas gesagt haben und wiederholte: »Hattest du schon Verkehr?« Leonie war verwirrt, wusste erst nicht, was gemeint war. »Ob du schon einmal mit einem Jungen geschlafen hast«, bekräftigte die Frauenstimme. Nein, wollte Leonie erst wahrheitsgemäß sagen, doch dann fiel ihr siedend heiß ein, was die Ärztin bei ihrer Untersuchung überprüfen sollte. Nein, nicht das! Leonie wollte alles vergessen und nicht, dass noch mehr hervorgezerrt würde. Tränen liefen ihr in Strömen über das Gesicht. Sie würde das mit sich selbst abmachen, irgendwo da tief drinnen. Dort, wo sie sich im Moment wie graue Asche fühlte, ausgelaugt und tot. Schließlich war sie selbst schuld an allem. Niemand sonst war schuld, nur sie! Sie wendete den Blick und schaute zu den Jalousien. Durch die Ritzen schnitt ihr grell das Sonnenlicht in die Augen. Wieder spürte sie den Schmerz, hörte die Musik und sah die bunten Lichtkreise vor den Augen.
»Ja«, wimmerte sie. »Aber sagen Sie bitte nichts meinen Eltern.«
Die Ärztin nahm ihr Blut ab. Eine Urinprobe war gleich zu Beginn der Untersuchung von ihr verlangt worden. Lauwarme Brühe in einem Plastikbecher, die sie der Assistentin in die Hand drückte.
Während sie sich wieder anzog, hörte sie aus dem Nebenraum die Stimmen der Ärztin und der Polizistin. Sie sprachen zu leise, als dass sie etwas hätte verstehen können.
Die nächste Station war ein Labor der Kriminaltechnik. Leonies Fingerabdrücke wurden gescannt, einige ihrer blonden Haare abgeschnitten. Mit einem langen Wattestäbchen wurde ein Speicheltest gemacht. Mit Pinzetten und Klebestreifen nahmen sie sogar Proben aus den Schürfwunden am Ellenbogen und an den Fersen sowie von dem Kratzer im Gesicht, sodass die verheilenden Wunden teilweise neu begannen zu bluten. Leonie spürte keinen Schmerz. Sie schaute den Prozeduren wie betäubt zu, als hätte das alles gar nichts mit ihr zu tun und sie sei nur Zuschauerin bei einem abstoßenden Film.
Alles wurde in Plastikdöschen, Beutelchen und Glasröhrchen verpackt, hermetisch versiegelt und mit Scancodes beschriftet. Mit jeder der Prozeduren dieses Tages hatte Leonie das Gefühl gehabt, ein Stück mehr von sich selbst zu verlieren. Die ruhige Routine der Menschen, denen sie dabei begegnete, irritierte sie. Was dachten diese Leute über sie? Hielten sie Leonie für eine Verbrecherin oder für ein Opfer? Fühlten die überhaupt etwas? Oder war sie für diese Leute eine von den vielen Nonames ihres täglichen Einerleis, deren Schicksale sie nicht an sich heranließen? Sie taten nur ihren Job. Manche wirkten dabei konzentriert und abwesend, andere versuchten besonders witzig oder cool zu sein und ließen die passenden Sprüche ab. Immer wieder entstand in Leonie der Gedanke, dass sie sich das alles hätte ersparen können. Gemütlich zu Hause krank feiern wäre angenehmer gewesen. Doch immer dann musste sie an Niklas denken, daran, dass er diese Prozeduren auch hatte über sich ergehen lassen müssen. Waren sie zu ihm auch so neutral gewesen? Oder verhielten sie sich bei dringendem Tatverdacht anders? In Filmen hatte sie gesehen, wie Gefangene von Polizisten und Mitgefangenen misshandelt wurden. Gab es so etwas nur im Film? Film, Traum und Wirklichkeit hatten in ihr inzwischen ein unentwirrbares Geflecht gebildet. Sie konnte kaum noch unterscheiden, was wirklich geschehen oder nur ein Gedankengebilde war. Insofern erschien ihr die Geschichte, die sie Lindemann aufgetischt hatte, nicht mehr als Lüge, sondern als eine plausible Variante der Wahrheit, die sie brauchte, um Niklas zu helfen und Frederik zu
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