Blinder Rausch - Thriller
link‹ in diesem Fall ist. Wenn wir herausfinden, wo die beiden Mädchen sich mit den Hundehaaren kontaminiert haben, haben wir den Tatort.« Anja nickt ihrem Kollegen bestätigend zu. »Zumindest den Ort, an dem sie sich kurz nach der Tat aufgehalten haben. Vielleicht ein Fahrzeug. Die Spusi sagt, die Hundehaare müssen in die frischen Wunden hineingekommen sein und klebten dann dort fest. Bei Leonie haben sie das heute noch im Wundschorf gefunden.« »Ein Fahrzeug! Das ist eine gute Idee!«, sagt Lindemann. »Schade, dass wir am See keine Reifenspuren mehr sicherstellen konnten.«
Ein unerbittlicher Regenvorhang überzieht die Ansammlung der dunkel gekleideten Gestalten. Die Tropfen, die sich von Leonies Kapuze lösen, spucken ihr ins Gesicht. Sie hat sich irgendwo in die vorletzte Reihe der Wartenden eingeordnet, die in einem großen Halbkreis um das Grab versammelt sind. Die Worte des Pfarrers sind hier kaum zu verstehen. Sie werden übertönt von dem Rauschen des Regens. Das ist gut so. Leonie will nichts mehr hören.
Die Trauerfeier eben in der großen kalten Gewölbehalle war schlimm genug gewesen. Zunächst hatte Leonie wie versteinert neben Hanna und Sercan gesessen. Sie hatte die Anwesenden gemustert. So viele waren gekommen. Lehrer, der Schulleiter, andere Erwachsene, die sie nicht kannte, viele Schülerinnen und Schüler, von denen ihr die meisten gut bekannt waren. Beim ersten Hallo zu Hanna hatte sie sich plötzlich unsicher gefühlt. Durfte man auf einer Beerdigung andere zur Begrüßung anlächeln, oder war das völlig unpassend? Hanna hatte ihr mit einem kleinen, traurigen Lächeln geantwortet und Leonie hatte es warm durchströmt. Hanna hatte nach Leonies Hand gegriffen und sie während der ganzen Feier nicht losgelassen. Noch nie war Leonie so dankbar gewesen, Hanna zur Freundin zu haben.
Als der Pfarrer etwas aus Denises Kindheit erzählte, hatte Hanna plötzlich wie viele andere auch hemmungslos begonnen zu weinen. In dem Moment waren auch bei Leonie alle Dämme gebrochen. Hanna hatte ihr mit zitternden Händen ein Papiertaschentuch gereicht und Leonie hatte es mit dankendem Nicken angenommen, denn sie selbst hatte vergessen, sich welche einzustecken. Gute Hanna! Sie dachte immer an alles und für andere gleich mit. Leonie tupfte sich die Tränen aus dem Gesicht und wollte wieder nach Hannas Hand greifen. Doch zwischen ihr und Hanna war plötzlich ein Abstand entstanden. Sercan hatte Hanna sanft in seinen Arm gezogen. Ihr Kopf ruhte fest in seiner Halsbeuge und seine andere Hand legte sich über Hannas Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte. Hannas Augen waren geschlossen, in ihren Wimpern glitzerten Tränen, doch ihre Gesichtszüge wirkten entspannt. Ein tiefer Stich durchfuhr Leonie. Wie sehr wünschte sie sich jetzt jemanden, der sie tröstend und fest in die Arme schloss. Einen, auf den sie sich verlassen konnte, der zu ihr hielt, egal, was rundherum geschah. Frederik war nicht zur Beerdigung gekommen. Auf ihre SMS -Anfrage vorhin hatte er knapp geantwortet. Keine zeit! Keine Zeit! Was für eine dumme Ausrede! Alle Schüler, die wollten, hatten heute für die Beerdigung schulfrei bekommen. Keine Zeit! Zu ihrem eigenen Erstaunen war Leonie darüber nicht enttäuscht gewesen. Und eines war ihr plötzlich gewiss: Seit jenem Moment neben Sercan und Hanna wusste sie, dass es nicht Frederik war, dessen Nähe sie vermisste.
Als der Trauermarsch sich in Richtung Grab auf den Weg machte, hatte Leonie sich allmählich von Hanna und Sercan abgesetzt, indem sie langsamer ging und sich unter die Nachfolgenden mischte. Irgendwann hatte sie aus der Ferne beobachtet, wie Hanna sich suchend umsah. Schnell duckte sie sich und konnte dann beobachten, wie Sercan Hanna mit sich zog. Leonie lief im Gleichtakt mit einer Gruppe von Menschen. Alle schwiegen. Man hörte nur das regelmäßige Knirschen unzähliger Füße auf dem feinen Kies und das Tropfen auf dem Blätterdach der hohen, alten Bäume. Leonie gab sich ganz dem seltsamen Gefühl hin, dass sie noch immer in sich trug. Es wollte gar nicht weichen, wurde im Gegenteil immer stärker, je mehr sie darauf einging. Anfangs war es ein kleines Stechen gewesen, das sie im ersten Augenblick als Eifersucht oder Neid gegenüber Hanna und Sercan gedeutet hatte. Doch das allein war es nicht. Es gab da noch etwas, was wie ein kleiner, warmer Punkt von diesem Stechen ausgelöst worden war, der sich vergrößerte und sie inzwischen wärmend und wohlig
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