Blinder Rausch - Thriller
durchströmte. Es wurde genährt von der Erinnerung an ein Lächeln, an eine Stimme und an ein Gesicht, dessen Augen ihr gegenüber immer auf Empfang gestellt waren. Wieso merkte sie das erst jetzt? Ausgerechnet jetzt? Hier auf Denises Beerdigung im Angesicht des Sarges und der trauernden Menschen? Bis heute hatte sich irgendwo in ihrer Fantasie die Vorstellung gehalten, das Geschehene könnte vielleicht gar nicht wahr sein und Denise plötzlich wie immer morgens aus dem Bus aussteigen und in die Schule kommen. Seit wenigen Minuten war ihr erst die Unwiederbringlichkeit bewusst. Es war der Tag des endgültigen Abschieds von Denise und sie spürte, dass es noch ein anderer Abschied war: der Abschied von der früheren Leonie, jener Leonie vor dem Tag des schrecklichen Erwachens im Stadtpark. Konnte sich ein Ereignis wie eine rote Linie durch ein Leben ziehen und alles, was danach kam, nur noch im Spiegel dieses Ereignisses definieren?
Leonie steht unter einem großen, tropfenden Baum. Rundherum sind Schirme aufgespannt. Irgendwo kommt Bewegung in die Menge. Einige drängen Richtung Grab. Leonie lässt sich mitschieben. Sie schaut nach unten und beobachtet, wie ihre mit Schlamm verschmierten Schuhe sie Schritt für Schritt vorwärts schieben. Ziellos. Zeitlos. Leonie lässt sich in diesen Zustand sinken. Dann spürt sie, wie jemand ihr sanft in den Rücken drückt. »Nun geh schon, Leonie«, flüstert jemand. Trotz des Flüstertons erkennt Leonie Frau Landmann. Sie wendet sich um und blickt in das Gesicht der Lehrerin. Ihre Augen sind rot gerändert. Die starke Frau Landmann sieht plötzlich so alt und verletzlich aus. Leonie nickt stumm und bewegt sich weiter. Die Menschen haben sich in einer Reihe angestellt. Gerade treten Hanna und Sercan hervor. Sie stehen Hand in Hand vor dem geöffneten Grab und sehen eine Weile hinab. Dann greift Sercan die kleine Schaufel, die in einer Erdwannne steckt und schüttet ein wenig Erde hinab. Hanna wirft ihr Blumensträußchen hinterher. Dann treten beide zügig zur Seite und reihen sich bei den wartenden Klassenkameraden ein, die sich in einigem Abstand versammelt haben. Leonie würde am liebsten jetzt noch davonlaufen. Doch sie zwingt sich, weiterzugehen. Gleich ist auch sie an der Reihe. Die Stängel der Blumen glitschen in ihrer Hand. Die hat Mama ihr heute Morgen in die Küche gelegt mit einem Zettel dabei:
Liebe Leonie, im Brotkasten ist noch ein frisches Croissant für dich. Die Blumen sind zum Hinterherwerfen. Alles Gute, Kopf hoch, Kuss Mama.
Leonie hatte die Blumen mitgenommen und nachgegrübelt, was mit »Hinterherwerfen« gemeint sein könnte. Sie war noch nie auf einer Beerdigung gewesen. Als der Opa starb, war sie noch zu klein, und der andere Opa und die beiden Omas lebten noch. Vor ihren Augen hatte das Bild der Hochzeit ihrer Cousine gestanden. Die hatte am Ende der Feier ihren Brautstrauß hinter sich geworfen. Gab es ein solches Zeremoniell auch bei einer Beerdigung?
Inzwischen weiß Leonie, was ihre Mutter gemeint hat. Hinterherwerfen, das klingt so lieblos, findet Leonie plötzlich. Aber es ist typisch Mama, immer wenn ihr etwas nahegeht, versucht sie, es bewusst härter zu kommentieren. Wird man so, wenn man wie sie als berufstätige Frau einen Familienalltag organisieren und immer darauf achten muss, dass keiner unversorgt bleibt? Mama, die Alltagsmanagerin. Bestimmt hat sie gestern beim Schnelleinkauf im Supermarkt mit dem quengelnden Tobi an der Hand noch schnell in Gedanken die Checkliste für den nächsten Tag abgearbeitet. Ach so, Leonie geht ja nicht in die Schule, sondern zur Beerdigung ihrer Klassenkameradin. Also schnell noch ein paar Blümchen aus dem Sortiment an der Kasse besorgen, Überraschungsei für Tobi. Alles geregelt. Ist Mama schon immer so gewesen? Oder hat es davor eine ganz andere Petra gegeben, als sie noch Ströbel und nicht Fischer hieß? Eine Petra, die wie Leonie mit Träumen im Kopf in den Tag hineinlebte und die nicht plante, dass man bei Beerdigungen an Taschentücher und Blumen denken musste? Leonie kann sich ihre Mutter nicht anders vorstellen. Die Fotos, die es gibt, zeigen Mama inmitten merkwürdig frisierter, lachender Mädchen oder auf dem Rücken eines Pferdes. Sie sind wie aus einer anderen Welt. Und Leonie? Würde sie einmal so werden wie ihre Mutter?
Das kann sie sich genauso wenig vorstellen. Erstaunt bemerkt sie, dass sie nun dicht vor der Graböffnung angekommen ist. Sie starrt hinab. Der helle Holzsarg ist an
Weitere Kostenlose Bücher