Blinder Rausch - Thriller
Wellen. Zwei weiße Schwäne mit erhaben gebogenen Hälsen und gespreizten Flügeln segeln vorbei. Benjamins Blicke folgen nicht der Bewegung der Tiere, sondern sind starr auf das Stofftier am Ufer gerichtet. »Warst du schon einmal hier?«, fragt Leonie plötzlich. Benjamin reagiert nicht, sondern sieht weiter wie gebannt hinüber. Der kühle Wind richtet die Härchen auf Leonies blanken Armen zu einer Gänsehaut auf. In der Eile hat sie vergessen, eine Jacke überzuziehen, oder ist es etwas anderes, das sie plötzlich so frieren lässt? Sie hält das Schweigen nicht aus und fragt: »Hast du dich wieder etwas beruhigt seit gestern?« Benjamin verharrt noch eine Weile regungslos. Dann fährt er plötzlich herum. »Was willst du? Ich habe dich nicht eingeladen, hierher zu kommen!«
Leonie rückt demonstrativ ein Stück von ihm ab und erklärt: »Unsere Putzfrau hat dich gegenüber stehen sehen und gedacht, du wartest auf mich. Darum bin ich gekommen, um dich zu fragen, was du willst.«
»Das hab ich dir doch gestern schon gesagt oder? – Heute wollte ich schauen, ob der Mettner schon wieder zurück ist.«
»Niklas kommt erst morgen. Was willst du von ihm?«
»Geht dich nichts an.« Sie bleiben eine Weile sitzen und schauen wieder in Richtung des Weihers. »Kannst du jetzt endlich gehen und mich in Frieden lassen?«, bricht es schließlich aus Benjamin hervor.
Leonie springt auf und geht davon. Nach der Biegung des Weges bleibt sie allerdings hinter einem dichten Eibengebüsch stehen und lugt durch die Zweige.
Benjamin sitzt zusammengesunken auf der Bank. Jetzt, wo er sich unbeobachtet fühlt, bedeckt er das Gesicht mit den Händen. Aus seinen zuckenden Körperbewegungen schließt sie, dass er weint. Einen kurzen Moment überlegt sie, ob sie zu ihm gehen und ihn trösten soll. Doch dann erinnert sie sich an sein beängstigendes Verhalten ihr gegenüber und daran, dass er jede Form der Annäherung ihrerseits wieder gründlich missverstehen könnte. Also bleibt sie stehen und beobachtet ihn weiter. Benjamin steht plötzlich auf und geht zu der Stelle am See, wo die verwelkten Blumen und die Stoffmaus liegen. Einen Augenblick steht er regungslos und starrt auf die Gegenstände zu seinen Füßen. Dann beginnt er plötzlich wie wild darauf herumzutrampeln. Er kickt die Blumenstängel in Richtung Wasser. Das Stofftier folgt und landet im Uferschlick. Er läuft hinterher, zieht die triefende Maus aus dem Wasser und wirft sie mit einer weit ausholenden Bewegung hinaus in den See, wo sie schnell versinkt. Dann wendet er sich um und kommt in zügigen Schritten den Kiesweg entlang, gleich wird er an der Biegung sein und sie entdecken. Leonie läuft schnell in Richtung Parkausgang davon. Sie huscht zwischen den Autos über die Straße, zieht noch im Laufen den Schlüssel aus der Hosentasche und flüchtet in den Hausflur.
Jetzt erst wagt sie wieder in Richtung Park zu schauen. Durch das geriffelte Türglas kann sie erkennen, dass Benjamin auf der anderen Seite aus dem Park gekommen ist. Nach kurzem Zögern überquert er ebenfalls die Straße und kommt auf die Haustür zu. Leonie läuft schnell durch den Flur, springt die Stufen in Richtung Hoftür hinunter und versteckt sich im Winkel vor der Kellertür. Sie hört das Vibrieren der Haustür. Offensichtlich hat Benjamin versucht, sie zu öffnen. Dann schallt eine Türklingel gedämpft durch das Treppenhaus. Leonie erkennt an der Tonfolge des Gongs, dass an ihrer Wohnungstür geklingelt wurde. Was will er? Will er hinauf zu Leonie und sich für sein rüdes Verhalten entschuldigen? Will er jetzt doch mit ihr reden und sagen, was er weiß? Sie überlegt, ob sie ihm öffnen soll. Der Türsummer ertönt. Offensichtlich hat Ljuba reagiert, weil sie dachte, Leonie habe keinen Schlüssel. Leonie hört, wie Benjamin den Hausflur betritt. Aber er bleibt dort. Er bewegt sich nicht Richtung Treppe. Was will er? Leonie bleibt abwartend in ihrem Versteck. Sie glaubt, ein kleines metallisches Klappern zu hören. Dann ein Knistern. Der Briefkasten? Hat er ihr einen Brief geschrieben? Dann hört sie einige Sekunden nichts mehr, nur noch ihr eigenes Herz, das laut in den Ohren pocht. Plötzlich meldet sich aus ihrer Hosentasche ein lauter Piepton und kündigt eine eingetroffene SMS an. Leonie fährt zusammen, reißt das Handy hervor und stellt es leise. Die SMS ist von Mama, sie meldet, dass sie mit den Kleinen noch essen gehen werden und erst später kommen.
Als Leonie vom Display
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