Blinder Rausch - Thriller
Klassenkameradin der Tochter dieser Eltern auf ungeklärte Weise zu Tode kam und die Tochter auch noch in die Geschehnisse verwickelt ist. Das alles ist, von hier aus betrachtet, weit weg. Draußen vor der Wohnungstür. Irgendwo in Mamas Kopf wohnt das Bild von der glücklichen Familie aus der Margarine-Reklame. Den ganzen Tag ist sie darum bemüht, dieses Bild zu erhalten. Kinder, streitet euch nicht. Nein, jetzt bitte nicht so ein ernstes Gesicht. Hör auf zu weinen. Kopf hoch, Leonie!
Leonie beobachtet ihre Mutter, wie sie sich ein Müsli zusammenrührt. Ihre kurz geschnittenen braunen Haare umrahmen das schmale Gesicht. Erstes Grau ist sorgfältig übertönt. Auch ihre ungeschminkten Lippen sind schön geschwungen und haben meistens vergnüglich nach oben gezogene Mundwinkel. Die schmalen Hände mit den gepflegten Nägeln schälen einen Apfel.
»Möchtest du nicht auch ein Müsli? Ich mach dir eins!« Die dunklen Augen leuchten ihr freundlich entgegen. Leonie schüttelt den Kopf. Das Bild von Denises Mutter steht ihr plötzlich vor Augen. Die kalte, krallige Hand, die verzweifelt nach ihr gegriffen hat, die leer geweinten, fragenden Augen, die von Leonie Antworten wissen wollten. Der Alkoholdunst. Das verhärmte Gesicht. Wie war ein Familienfrühstück für Denise abgelaufen?
»Ihr habt mich noch gar nicht gefragt, wie es gestern auf der Beerdigung war«, sagt Leonie plötzlich. Das Lächeln im Gesicht der Mutter erstirbt. Sie hört einen Moment mit dem Schälen des Apfels auf und sagt: »Ich kann mir denken, dass das bestimmt nicht schön für dich war und ich finde es gut, dass du hingegangen bist. Aber nun ist es vorbei und mit drüber reden wird es auch nicht besser.« Dann schält sie weiter.
»Beerdigungen finde ich immer gruselig«, kommt die Stimme des Vaters hinter der Zeitung hervor. Gruselig ist das richtige Wort, denkt Leonie. Es passt zu ihrer eigenen Stimmung heute Morgen. Immer wieder ist sie in der Nacht aufgewacht und hat über Benjamin nachgedacht. Benjamins Stimmung gestern war nicht einfach nur mit schlechter Laune zu erklären oder mit mal nicht gut drauf sein. Ganz tief in seinem Innern schwelte etwas, das in kurzen Momenten an der Oberfläche schimmerte und dann wieder versank. Seine Stimmungen schwankten und zeigten ihn in der einen Minute schwach und in der nächsten mit Allmachtsfantasien. Einerseits hatte er sie gestern angeschwärmt und sie gelobt für ihr schonendes Verhalten ihm gegenüber und andererseits hatte er sie von sich gejagt und beschimpft und mit wüsten Schilderungen seiner Selbstmordfantasien gequält. Warum hatte er das getan? Um sie einzuschüchtern? Aber warum? Angeblich mochte er sie doch.
Die letzten Stunden sind zäh vergangen. Leonie steht seitlich hinter der Gardine in ihrem Zimmer und schaut zu, wie Marianne bereits zum zweiten Mal ansetzt, um das Auto rückwärts in einer geräumigen Parklücke vor dem Haus unterzubringen. Dann ist es endlich so weit. Niklas lange Gestalt schält sich aus der geöffneten Beifahrertür. Das schlabberige T-Shirt, die verwaschene Jeans, die Turnschuhe. Das ist Niklas. Aber dieses schmale Gesicht, die sehr kurz geschnittenen Haare. Das ist eigentlich nicht der Junge, den sie kennt. Der dort unten seine muskulösen Arme reckt und dabei suchend an der Hauswand zu ihrem Zimmer hinaufschaut, ist ein fremder junger Mann. Ein gut aussehender, fremder junger Mann. Leonie spürt, wie ihr Herz klopft, und sie gleitet zur Seite hinter die dichte Übergardine, weil sie plötzlich Angst hat, von ihm entdeckt zu werden. Hdgdl, so etwas ist leicht geschrieben. Und jetzt? Was soll sie jetzt tun? Nichts ist mehr wie vorher. Sie linst vorsichtig hinab und schaut Niklas dabei zu, wie er die Taschen aus dem Kofferraum räumt und sich damit belädt. Zwischendurch schaut er immer wieder suchend zu ihrem Fenster. Eigentlich ist es albern, hier so zu stehen und sich nicht blicken zu lassen, albern und feige.
Leonie stürzt aus ihrem Zimmer. »Was ist los?«, ruft die Mutter aus der Küche. »Sie sind da!«, ruft Leonie, die bereits die Wohnungstür geöffnet hat, und es hallt durchs Treppenhaus. Leonie fliegt die Treppen hinunter und merkt gar nicht, dass hinter ihr die Schritte der Geschwister trappeln. »Siesinda!«, jubelt Tobi. Leonie öffnet die Haustür. Dort stehen aufgereiht große Taschen. Sie sieht, wie Marianne am Auto damit beschäftigt ist, Niklas weitere Taschen umzuhängen. Dann schließt sie das Auto ab und beide kommen auf die
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