Blinder Rausch - Thriller
aufblickt, steht Benjamin vor ihr. Ein bitteres Lächeln umspielt seine Mundwinkel: »Erwischt, du Spionin!« Dann wendet er sich um und geht Richtung Ausgang. Leonie folgt ihm. Kurz vor der Tür packt sie ihn am Arm und zieht ihn herum: »Benny, warte. Wir müssen reden, bitte!« Benjamin reißt sich mit einer schnellen Schulterbewegung los. »Gar nichts müssen wir!«, faucht er. Leonie ist plötzlich fest entschlossen, sich nicht schon wieder abweisen zu lassen: »Doch! Bitte! Benny, ich weiß, dass du etwas weißt und es wäre besser, wenn du es sagst. Bitte!« »Hör auf zu winseln, es ist zu spät«, presst er heiser hervor. Die Kälte in seiner Stimme lässt Leonie erstarren. Diesen Moment nutzt er, um zu gehen.
Leonie schaut noch eine Weile auf die geschlossene Tür. Dann kommt Bewegung in sie. Ihre Augen gleiten über die Reihe der Briefkästen. Sie kontrolliert das kleine Sichtfenster im unteren Bereich jedes Türchens. Nirgendwo gibt es einen Hinweis auf Inhalt. Sie nestelt den Briefkastenschlüssel an ihrem Schlüsselbund hervor und schließt den Kasten ihrer Familie auf. Er ist leer. Verwirrt setzt sich Leonie in Richtung Treppenaufgang in Bewegung. Sie kann sich keinen Reim darauf machen, warum Benjamin sich Zutritt zum Hausflur verschafft hat.
Die Geschwister toben durch die Wohnung. Monas glucksendes Lachen ist zu hören und Tobis spitze Schreie, wenn sie ihn beim Versteckspielen gefunden hat. Leonie schlurft gähnend durch den dunklen Flur in Richtung Wohnküche. Dort fällt ein helles Morgenlicht durch die hohen Fenster. Der große Tisch ist üppig gedeckt. Sonntags gibt es bei Fischers Brunch. Die Eltern sitzen in Morgenmänteln da und lesen Zeitung. Als Leonie die Küche betritt, werden die Zeitungsblätter raschelnd zur Seite geschoben und Papas hohe Stirn leuchtet auf. Sein kurz geschnittenes blondes Haar wird immer spärlicher. »Na schon wach?«, fragt er amüsiert über den Rand seiner Lesebrille. »Wie viel Uhr ist es denn?«, stöhnt Leonie. »Neun Uhr«, antwortet Leonies Mutter. In ihrem Gesicht steht seit Tagen eine verzeihende Milde, wenn sie mit Leonie spricht. Kein Geschimpfe mehr, wegen eines unaufgeräumten Zimmers oder dem nicht geleerten Mülleimer. Auch das Bad kann Leonie blockieren, so lange sie will. Selbst die Geschwister haben sich dem neuen Ton angepasst und umschleichen Leonie vorsichtig. Leonie will das nicht. Ich bin nicht krank, denkt sie und kann doch verstehen, warum die Eltern so behutsam mit ihr umgehen. Sie bereitet sich an der Kaffeemaschine einen Cappuccino zu und setzt sich an ihren Platz. Sie schüttelt den Kopf, als die Mutter ihr den Korb mit den Brötchen hinhält. Essen geht nicht.
»Alles in Ordnung?«, kommt sofort die besorgte Nachfrage. Leonie probiert ein Lächeln, das ihr allerdings schief gerät. »Ich habe nur noch keinen Hunger«, erklärt sie und begegnet Mamas forschendem Blick. »Gibt es eigentlich Neuigkeiten wegen des toten Mädchens?«, fragt Papa. So kann nur ein Wissenschaftler fragen, denkt Leonie. »Ich habe nichts Neues gehört«, erklärt sie.
»Nun, es wird eine Weile dauern, bis sie die ganzen Spuren ausgewertet haben. Aber heutzutage ist es kein Problem, aus winzigsten Resten von Lebendmaterial brauchbare DNS zu rekonstruieren«, erklärt ihr Vater im Vorlesungston.
Leonie nickt brav und umfasst ihre Kaffeetasse mit beiden Händen. Die Wärme tut gut. Leonies Mutter räuspert sich. »Marianne hat mir eine SMS geschrieben. Sie sind gestartet und wollen etwa gegen 12 Uhr hier sein«, erklärt sie. Leonie horcht auf: »Echt? – Oh, das ist gut!« Mit einem Mal haben Leonies Augen einen anderen Glanz, was ihre Mutter zufrieden registriert. »Was ist aus dem Verdacht gegen Niklas geworden?«, fragt der Vater.
»Nichts«, antwortet die Mutter. »Marianne meint, der Anwalt sei ziemlich gut gewesen.«
»Wer war das?«, erkundigt sich der Vater. »Ein Dr. Gärtner. Sie hat ihn im Internet gefunden.« Der Vater prustet los.
»Dr. Gärtner? Ein Rechtsanwalt? Der wäre wohl besser bei mir in der Unkrautbranche aufgehoben.« Leonies Mutter lacht und Leonie mustert ihren Vater, der sich ein Croissant aus dem Körbchen gefischt hat und genüsslich hineinbeißt. So kennt sie ihn. Er ist einer, der gerne Witze macht und Schwierigkeiten mit lustigen Bemerkungen umschifft. Wie oft hat er der keifenden Hofmeister auf diese Weise schon Paroli geboten. Und Mama lässt sich gerne darauf ein. Man kann nicht glauben, dass vor einer Woche eine
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