Blindes Grauen
Pappschachtel.
Was zum Teufel war hier los?
MeChelle hatte sich das Hirn zermartert. Warum? Wenn jemand sie umbringen oder foltern oder vergewaltigen oder sonst was wollte … hätte er das nicht schon längst getan?
Und warum die Blindheit? Was hatten sie mit ihren Augen gemacht?
Es musste mit gestern zu tun haben. Die blinde Zeugin, die am Tag zuvor in ihr Büro gekommen war. Es musste eine Verbindung geben.
Denk nach! Denk nach! MeChelle setzte sich auf den Boden und versuchte, sich an jede Kleinigkeit zu erinnern.
»Hallo, ich heiße Lane Priest.«
Die junge Frau stand knapp hinter dem Eingang zum Büro der Detectives. Sie hielt einen weißen Stock in der Hand und trug eine sehr dunkle, übergroße Sonnenbrille. Sie streckte Me-Chelle die Hand hin, aber nicht ganz in die richtige Richtung. MeChelle musste ein wenig zur Seite treten, um der jungen Frau bequem die Hand schütteln zu können.
Es war eine weiße Frau, Ende zwanzig oder Anfang dreißig – MeChelle hatte immer Schwierigkeiten, das Alter von weißen Frauen zu schätzen – mit sehr blasser Haut und sehr blondem Haar. Beinahe wie ein Albino. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte MeChelle.
»Ich will einen Mörder anzeigen.«
»Ah«, sagte MeChelle. »Ja, sehen Sie, ich bin von der Cold Case Unit. Wir beschäftigen uns nur mit alten Morden.«
»Keinen Mord«, sagte Lane Priest. »Einen Mörder. Der Mord hat sich vor achtzehn Jahren ereignet, aber ich habe erst gestern herausbekommen, wer es war.«
»Oh!« Das war interessant. »Na dann, kommen Sie mit.«
Die Frau streckte ihr den Ellenbogen entgegen, sie hob ihn ein paar Zentimeter von ihrer Seite. »Könnten Sie …«
MeChelle nahm sie am Arm. »So etwa?«
»Das ist gut. Nicht ziehen. Gehen Sie einfach, und ich komme mit Ihnen.«
»Okay.« MeChelle führte die Frau zurück in ihr Büro und ließ sie auf einem Stuhl Platz nehmen. »Also«, sagte MeChelle, nachdem sie sich vorgestellt hatte, »erzählen Sie mir, worum es geht.«
Die Frau faltete ihren weißen Stock zusammen, legte ihn in ihre Handtasche, zog einen kleinen MP3-Player heraus und stellte ihn auf den Schreibtisch. »Vor achtzehn Jahren, als ich elf Jahre alt war, wurde meine Mutter vergewaltigt und ermordet. Ihr Name war Kathleen Morris-Bolligrew. 13. Mai 1988. Ein Mann drang in unser Haus ein und fesselte sie ans Bett. Dann vergewaltigte er sie dreimal. Danach erstach er sie.«
»Ich verstehe. Und wo waren Sie währenddessen?«
»Bei uns zu Hause. Wir lebten in einem Haus in Midtown.«
»Und wo waren Sie, als das geschah?«
Eine lange Pause. »Ich war unter dem Bett meiner Mutter.«
»Also haben Sie …«
Wieder eine Pause. »Ja. Ich hatte in jener Nacht Geräusche vor dem Haus gehört. Ich schaute hinaus und glaubte, jemand auf der hinteren Veranda gesehen zu haben. Also ging ich ins Zimmer meiner Mutter und sagte ihr, dass dort draußen ein Mann wäre. Sie sagte, ich hätte schlecht geträumt, und ich könnte bei ihr im Bett schlafen. Sie war meine Mutter, also glaubte ich ihr. Ich war gerade wieder eingeschlafen, als ich hörte, wie das Fenster zersplitterte. Und dann die Schritte, die durch den Flur in unsere Richtung kamen. Ich versteckte mich unter der Decke. Er kam ins Zimmer und zerrte meine Mutter an den Haaren aus dem Bett. Dabei rollte ich auf der anderen Seite heraus. Ich vermute, dass er mich im Dunkeln nicht gesehen hat.«
»Mein Gott«, sagte MeChelle. »Also waren Sie damals …«
»Blind? Nein. Damals nicht.«
»Und wieso wissen Sie, wer es war? Haben Sie ihn gesehen?«
Die blasse junge Frau schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es eben. Ich habe ihn gehört. Ich habe ihn gehört und kannte seine Stimme. Ich habe diese Stimme all diese Jahre in meinem Kopf gehört. Und in der Sekunde, in der ich sie jetzt erneut hörte, wusste ich, dass er es ist.«
MeChelle runzelte die Stirn. Ein achtzehn Jahre alter Fall, bei dem die einzige Zeugin blind war. Das waren die Zutaten für eine ganz schön wilde, sinnlose Jagd. Aber trotzdem. Es war faszinierend. »Wo haben Sie ihn gehört, Ms Priest?«
»Hier. Hören Sie.«
Ihr Finger schwebte über dem Abspielknopf ihres MP3-Players. MeChelle streckte den Arm aus und steckte sich die Köpfhörer in die Ohren. »Kann es losgehen?«, fragte Lane Priest.
»Ich bin bereit.«
»Wild Adventure Park!«, sagte eine Stimme aus dem Kopfhörer. »Das ist mehr als ein Abenteuer – es ist eine ganze Welt voll Spaß!« Es war ein Werbespot. Zum Frühlingsende,
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