Blindes Grauen
Sommeranfang, waren die nervtötenden Spots für den Wild Adventure Themenpark andauernd im Radio zu hören. Ein ganz typischer Sprecher mit einer heiseren, salbungsvollen Stimme – er dröhnte wie jemand, der zwei Päckchen am Tag rauchte. Sie hörte sich den Rest des Spots an, der Ansager erzählte von den ganzen tollen Achterbahnen und all den spaßigen Sachen, die man machen konnte.
Klar, dachte MeChelle. Zum Beispiel vor jeder Achterbahn eine Stunde in der gleißenden Sonne stehen.
Schließlich war der Werbespot vorüber.
»Okay?«, sagte MeChelle, als er vorbei war. »Worauf höre ich?«
»Ihn«, sagte die Frau.
»Tut mir leid. Habe ich etwas missverstanden?«
»Der Mann in dem Werbespot. Der Ansager. Er ist derjenige, der meine Mutter ermordet hat.«
MeChelle schwieg eine Weile. »Der Sprecher. Sie wollen sagen – nur, dass ich das richtig verstehe –, dass sie behaupten, dass dieser Mann ihre Mutter vergewaltigt und ermordet hätte. Und Sie sagen, Sie erinnern sich ganz klar an seine Stimme von vor achtzehn Jahren.«
»Hören Sie, ich weiß, es klingt verrückt, Sergeant Deakes. Aber mein Augenlicht war damals schon nicht das Beste. Und wenn man nicht gut sehen kann, dann verbessern sich die anderen Sinne.« Es folgte eine lange Pause. »Ich kann mich an ihn erinnern, Sergeant. Ich erinnere mich an diese Stimme.«
MeChelle machte sich ein paar Notizen, dann hielt sie inne und sah die Zeugin an. Sie saß ganz ruhig da, die Augen geradeaus gerichtet, als schaute sie direkt durch die Wand. Sie betrachtete die Frau eine Weile. Eine extrem attraktive junge Frau. Me-Chelle kannte nicht viele blinde Menschen. Aber die meisten von ihnen – irgendwie konnte man sagen, dass sie blind waren, wenn man sie anschaute. So, wie sie sich bewegten oder so. Sie waren nicht so befangen in ihren Bewegungen und ihrem Auftreten wie andere Leute. Sie hatten einen eigenartigen Ausdruck im Gesicht, Winzigkeiten wirkten wie verschoben.
Die Frau schien MeChelles Gedanken lesen zu können. »Es ist anders, wenn man später im Leben erblindet. Dann zuckt man nicht und schneidet Grimassen und hat Krümel auf dem Hemd.« Die Frau lächelte und zeigte eine Reihe perfekter Zähne. »Ich war immer schon eitel, bin es immer noch.«
» Okay«, sagte MeChelle. »Ich will Ihnen keinen Unsinn erzählen. Das wird eine schwierige Sache. Aber ich nehme die Akte heute Abend mal mit nach Hause. Sie werden wieder von mir hören, sobald ich damit durch bin.«
Die Frau erhob sich. »Behalten Sie den MP3-Player«, sagte sie. »Sie können ihn mir zurückgeben, wenn Sie ihn nicht mehr brauchen.«
»Hat Sie jemand herbegleitet?«, fragte MeChelle.
»Ja, danke. Sie warten draußen auf mich. Wenn Sie mich einfach nur zur Tür bringen könnten, dann komme ich alleine klar.«
Nachdem die Frau weg war, hatte MeChelle ihren blöden Kollegen Cody Floss gerufen, damit der rüber ins Archiv ging und die Akte zog.
Sie war ziemlich sicher, dass er nicht mit der Akte zurückgekommen war. Aber genau genommen war ihr Erinnerungsvermögen ein bisschen schwammig. Sie war mit leeren Händen nach Hause gegangen. Sie erinnerte sich noch vage daran, fünfundvierzig Minuten auf dem Laufband absolviert zu haben. Dann hatte sie sich Chicken Voilà in der Mikrowelle gemacht. Und danach?
Ein großes schwarzes Loch.
Blind sein. Das alles hatte irgendwas mit Blindheit zu tun.
Dreizehn Stunden. Sie hatte dreizehn Stunden, um etwas herauszubekommen. Und dann?
Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.
Sie dachte wieder an ihre Umgebung. Telefon. Tisch. Schachtel. Kühlschrank. Neuer Teppich. Mehr war nicht hier. War das Zufall? Oder Teil eines Plans?
Sie ging durch das Zimmer. Es fiel ihr jetzt leichter, sich zu bewegen. Sie stolperte nicht mehr so oft und stieß gegen die Wände. Im Geiste begann sie eine Karte anzulegen: Zwei Schritte bis zur Tür, vier zum Fenster, sechs zur anderen Tür … Sie griff nach der Kiste, die auf dem Tisch stand, drehte sie um, kippte den Inhalt aus.
Sie tastete über die Oberfläche des Tisches. Da waren sechs Gegenstände.
Etwas Kleines, Fusseliges. Ein Teddybär? Nein, es hatte lange Schlappohren. Es war irgendein Stofftier – ein Hund oder ein Hase. MeChelle verspürte den perversen Drang, das kleine Stofftier an sich zu drücken. Aber sie tat es nicht. Wer auch immer für all dies verantwortlich war, beobachtete sie vermutlich irgendwie durch eine Kamera. Und sie würde ihnen nicht diese Befriedigung verschaffen. Manchmal versteckten
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