Blindes Grauen
dass ich darauf nicht früher gekommen bin. Du bist mein Augenlicht!«
Der Stille Mann räusperte sich erneut und begann zu lesen. Nicht laut, sondern in einem leisen Flüsterton. »›Betrifft: Das Vermächtnis von Ellis J. Morris, dem Dritten …‹«
MeChelle spürte etwas in ihrer Brust sich weiten. Ja! Jetzt kam sie endlich weiter!
41
Das Büro von Diamond and Associates LLP befand sich im Erdgeschoss eines Hauses mit einem großen Schild davor: BÜRORÄUME ZU VERMIETEN. Es schien vollkommen verlassen, keine anderen Mieter als Neil Diamond. Er hatte Me-Chelles Nummer gewählt, aber erfolglos. Cody hatte ihm gesagt, dass die Dienstaufsichtsbehörde ihn über heiße Kohlen laufen ließ und er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, das schwarze Kästchen zu reparieren, das die Anrufe weiterleitete.
»Verdammt noch mal, Junge«, hatte Gooch gebrüllt, »du musst das hinkriegen!«
»Ich versuch’s ja, Sir«, hatte Cody gejammert.
Gooch betrat Diamond and Associates. Die Rezeptionistin im grell dekorierten Empfangsbereich der Anwaltskanzlei hatte sehr lange, gelbe Fingernägel und große falsche Brüste. »Ist Mr Diamond da?«, fragte Gooch.
»Haben Sie einen Termin, Sir?«
»Sagen Sie ihm, mein Name ist Hank Gooch. Ich bin ein Freund von Melbert Reavis.«
»Wie geht es Mr Reavis?«, fragte die Empfangsdame. Sie hatte einen braunen Schneidezahn, was in ihrem ansonsten einigermaßen netten Gesicht scheiße aussah. »Er ist so ein lustiger Typ.«
»Holen Sie einfach Neil her«, sagte Gooch.
Der braune Zahn verschwand. »Ja, Sir.«
Neil Diamond kam gleich heraus. Er sah überhaupt nicht aus wie der Sänger.
Er war etwa fünfunddreißig, billiger Anzug, schütteres Haar, ein Gesicht wie eine Ratte.
»Also …«, sagte er. »Ein Freund von Melbert Reavis, ja?« Er lächelte, aber es sah nicht freundlich aus.
»Gehen wir in Ihr Büro.«
Der Anwalt rührte sich nicht. »Keiner seiner Freunde nennt ihn ›Melbert‹«, sagte Neil Diamond. »Sie sagen normalerweise alle ›Red‹.«
»Gehen wir in Ihr Büro«, sagte Gooch noch einmal.
»Wie heißen Sie noch mal? Gooch? Den Namen habe ich noch nie gehört.«
»Sie haben die Wahl«, sagte Gooch. Er zog seine Geldbörse hervor und klatschte einen Dollarschein auf den Empfangstresen. »Möglichkeit eins, Sie nehmen diesen Dollar, und ich werde Ihr Mandant.«
»Mit einem Dollar kaufen Sie nicht mal acht Sekunden meiner Zeit.« Er wandte sich an die Rezeptionistin. »Schätzchen, ruf die Bullen, sie sollen dieses Redneck-Arschloch rausschaffen.«
»Möglichkeit zwei, sie kassieren eine Anzeige wegen Beihilfe zur Tätlichkeit gegen eine Polizeibeamtin. Wenn sie stirbt, dann macht der Staatsanwalt daraus Beihilfe zum Mord. Verschärfende Umstände, Mord an einer Polizistin, das ergibt die Todesstrafe.«
Der Anwalt lachte lauthals.
»502 Lincoln Street«, sagte Gooch.
Der Anwalt hörte abrupt auf zu lachen. Seine Haut wurde ein wenig blass. Er räusperte sich, angelte den Dollar, stopfte ihn in seine Tasche. »Gehen wir in mein Büro, Mr Gooch«, sagte er.
»Sehen Sie?«, sagte Gooch. »Wie einfach es ist, wenn Sie tun, was ich sage?«
Sie gingen durch einen langen Flur an einer Reihe leerer Büros vorbei. Das Ganze wirkte ziemlich improvisiert.
»Die Räumlichkeiten sind ganz schön groß für Sie«, sagte Gooch.
»Einer meiner Klienten ist Konkurs gegangen«, sagte Neil Diamond. »Ich kriege drei Jahre mietfrei statt Bargeld.« Sie betraten den letzten Raum, der vom Flur abging. Er war groß, aber nur spärlich möbliert. Diamond setzte sich hinter einen sehr großen Schreibtisch, zog den Dollarschein heraus, strich ihn mit den Fingerspitzen auf dem Holz glatt. »Okay«, sagte er. »Was wollen Sie, Detective? Ich nehme an, Sie sind Polizist?«
»502 Lincoln. Ich will wissen, wer Sie engagiert hat, um Reavis dazu zu bewegen, jemand dahin zu schicken.«
»Detective, ich nehme meinen Eid als Anwalt sehr ernst.« Neil Diamond hob den einen Dollar. »Das ist nicht genug Geld, um mich dazu zu überreden, das Vertrauen eines Mandanten zu brechen.
»Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Der Dollar sorgt dafür, dass dieses Gespräch vertraulich bleibt. Falls Sie also das Vertrauen eines Mandanten mir gegenüber brechen, kann man unser kleines Geheimnis nicht vor der Innung gegen Sie verwenden, weil es durch die Schweigepflicht gedeckt ist.«
»Nein, genau genommen schützt er sie nur vor dem Verrat durch mich. Aber Sie können der Innung immer noch erzählen,
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