Blindes Vertrauen
sie die Zigaretten zurück. »Danke, lieber nicht. Aber rauchen Sie ruhig.«
»Ich rauche nicht. Zigaretten habe ich nur für den Fall in der Tasche, daà ich einen Interviewpartner entkrampfen muÃ.«
»Bevor Sie ihm den Todesstoà versetzen.«
Barrie lachte. »Ich wollte, ich wäre so gefährlich.«
»Tatsächlich liegen Ihnen eher die Reportagen, die voll aus dem Leben gegriffen sind.«
Sie war angenehm überrascht, daà Mrs. Merritt ihre Arbeiten kannte. »Oh, danke!«
»Einige Ihrer Reportagen waren wirklich auÃergewöhnlich. Zum Beispiel die über den Aids-Kranken. Und die über eine obdachlose alleinerziehende Mutter von vier Kindern.«
»Sie wurde für einen Branchenpreis nominiert.« Barrie hielt es für überflüssig zu erwähnen, daà sie ihre Reportage selbst eingereicht hatte.
»Sie hat mich zum Weinen gebracht«, sagte Mrs. Merritt.
»Mich auch.«
»Tatsächlich sind Sie so gut, daà ich mich schon gefragt habe, warum Sie nicht bei einer der groÃen Fernsehgesellschaften arbeiten.«
»Ich habâ ein paarmal Pech gehabt.«
Vanessa Merritt runzelte ihre glatte Stirn. »War da nicht die Sache mit Bundesrichter Green, die â¦Â«
»Zum Beispiel«, unterbrach Barrie sie. Sie hatte jedoch keine Lust, hier ihre MiÃerfolge aufgezählt zu bekommen. »Warum haben Sie mich angerufen, Mrs. Merritt? Ich bin entzückt, aber auch neugierig.«
Vanessa Merritts Lächeln verblaÃte allmählich. »Ich habe mich klar genug ausgedrückt, oder? Dieses Gespräch ist kein Interview.«
»Ja, ich verstehe.«
Aber das stimmte nicht. Barrie Travis hatte nicht die geringste Ahnung, warum Mrs. Merritt sie ganz unerwartet angerufen und zu einer Tasse Kaffee eingeladen hatte. Sie kannten einander seit ein paar Jahren flüchtig, waren aber bestimmt keine Freundinnen.
Selbst der Treffpunkt, den sie gewählt hatte, war merkwürdig. Dieses Restaurant war eins von mehreren am Ufer des Kanals, der den Potomac mit dem Tidal Basin verband. Nach Einbruch der Dunkelheit wimmelte es in den Clubs und Restaurants der Water Street von Gästen, hauptsächlich von Touristen. In einigen Lokalen herrschte auch mittags reger Betrieb, aber am späten Nachmittag, vor allem an einem Werktag, waren die Restaurants praktisch menschenleer.
Vielleicht war dieser Treffpunkt gerade wegen seiner Abgeschiedenheit ausgesucht worden.
Barrie lieà einen Zuckerwürfel in ihren Cappuccino fallen und rührte ihn langsam um, während sie über das eiserne Terrassengeländer hinwegstarrte.
Es war ein trübseliger Tag. Der Himmel war bewölkt, und das Wasser des Kanals kabbelte. Die Motor- und Segelboote im Jachthafen tanzten im grauen Wasser auf und ab. Der Sonnenschirm über ihrem Tisch knatterte in den heftigen Windböen,
die den Geruch von Fisch und Regen herantrugen. Weshalb saÃen sie an einem so stürmischen Tag im Freien?
Mrs. Merritt rührte in der aufgeschäumten Milch ihres Cappuccinos und nahm endlich einen Schluck. »Jetzt ist er kalt.«
»Möchten Sie einen frischen?« fragte Barrie. »Ich kann den Ober rufen.«
»Nein, danke. Eigentlich wollte ich diesen schon nicht. Die Einladung zum Kaffee war nurâ¦Â« Sie zuckte mit einer Schulter, die einst elegant und schmal, mittlerweile aber ausgesprochen knochig war.
»Eine Ausrede?« hakte Barrie nach.
Vanessa Merritt hob den Kopf. Trotz der Sonnenbrille sah Barrie trostlose Aufrichtigkeit im Blick der anderen. »Ich muà mit jemandem reden.«
»Und da sind Sie auf mich gekommen?«
»Genau.«
»Weil Sie ein paar meiner Reportagen zum Weinen gebracht haben?«
»Deshalb â und wegen der Beileidskarte, die Sie mir geschrieben haben. Die hat mich berührt, tief berührt.«
»Ich bin froh, wenn sie Sie ein biÃchen getröstet hat.«
»Ich ⦠ich habe nicht viele gute Freunde. Sie und ich sind ungefähr gleich alt. Ich dachte, Sie könnten ein guter Resonanzboden sein.« Als sie den Kopf sinken lieÃ, fiel ihre kastanienbraune Mähne nach vorn und verdeckte teilweise ihre hohen Wangenknochen und ihr aristokratisches Kinn.
Barrie sprach halblaut weiter: »Meine Karte hat nicht ausdrücken können, wie betroffen mich dieser Schicksalsschlag gemacht hat.«
»Doch, das hat sie. Und dafür danke ich Ihnen.« Vanessa
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