Blindlings
konnte - und in Island kann man meistens endlos weit sehen –, rührte sich nichts. Befriedigt wanderte ich zum Fluß hinab, dessen Schmelzwasser eine milchige, graugrüne Färbung hatte und erschreckend kalt war. Aber nach dem ersten Schock war es sehr erfrischend. Einigermaßen aufgepulvert kehrte ich zurück, um zu frühstücken.
Elin stand über die Landkarte gebeugt da. »Wohin willst du eigentlich fahren?«
»Ich möchte zwischen Hofsjökull und Vatnajökull durch«, erwiderte ich. »Wir nehmen die linke Abzweigung.«
»Das ist aber eine Einbahnstraße«, meinte Elin und reichte mir die Karte.
Das stimmte. Entlang der gestrichelten Linie, die den Weg anzeigte, stand die strenge Anweisung: Adeins faeit til austurs
– nur ostwärts befahrbar. Wir wollten aber nach Westen.
Ich runzelte die Stirn. Die meisten Leute glauben, daß, weil Grönland – sprich ›Grünes Land‹ – mit Eis bedeckt ist - und der Name infolgedessen irreführend ist, auch Island – sprich
›Eisland‹ – eine falsche Bezeichnung sein müsse. Aber das ist ein gewaltiger Irrtum. Sechsunddreißig Eisfelder überziehen ein Achtel des Landes, und schon ein einziges, nämlich der Vatnajökull – übertrifft an Gletschermassen alles, was in Skandinavien und den Alpen zusammen geboten wird.
Die Eiswüste des Vatnajökull lag genau südlich von uns, und der Fahrweg nach Westen wurde durch das aufragende Massiv des Trölladyngja - Dom der Trolle -, eines riesigen Schildvulkans, förmlich gegen ihn gequetscht. Ich war noch nie dort entlanggefahren, konnte mir jedoch lebhaft vorstellen, warum man ihn nur in einer Richtung benutzen durfte. Mit Sicherheit führte er dicht an den Felswänden entlang und steckte voller Haarnadelkurven - war also auch ohne gefährlichen Gegenverkehr eine knifflige Strecke.
Ich seufzte und ging die anderen Möglichkeiten durch. Die Abzweigung nach rechts führte in die entgegengesetzte Richtung nach Norden. Und die Straße, die wir gekommen waren, zurückzufahren, bedeutete das Dreifache der Wegstrecke. Die Geographie Islands hat ihre eigene erbarmungslose Logik, und die Auswahl der Routen ist äußerst beschränkt. Ich sah Elin an.
»Wir riskieren es einfach. Wir nehmen den kürzesten Weg und beten, daß wir dabei niemandem begegnen. Touristen sind wahrscheinlich keine unterwegs, es ist ja noch früh im Jahr.«
Ich grinste Elin an. »Jedenfalls ist kaum anzunehmen, daß sich dort ein Polizist herumtreibt und uns aufschreibt.«
»Und auch kein Krankenwagen, der uns am Fuß eines Felsens aufsammelt.«
»Ich bin ein vorsichtiger Fahrer. Vielleicht passiert uns gar nichts.«
Elin ging zum Fluß hinunter, und ich bestieg erneut den Erdhügel. Rundherum war alles still. Keine verräterische Staubwolke auf dem Weg zur Askja, die auf einen uns verfolgenden Wagen hinwies, kein geheimnisvolles Flugzeug, das am Himmel kurvte. Vielleicht war ich ein Opfer meiner blühenden Phantasie und rannte vor einem Hirngespinst davon?
Der Schuld’ge flieht, wo keiner ihn verfolgt… Und wenn jemand Schuldgefühle haben mußte, dann ich! Lediglich meiner Intuition folgend, hatte ich Cooke das Päckchen vorenthalten - und Taggart hielt nicht viel von meinen Vorahnungen. Außerdem hatte ich Graham umgebracht. Das Department hätte mich längst für schuldig befunden und abgeurteilt. Wie würde sich Jack Case wohl verhalten, wenn ich ihn in Geysir traf? Ich sah, daß Elin zum Land-Rover zurückkehrte, und noch einmal ließ ich den Blick über die Umgebung schweifen und ging dann zu ihr hinunter. Ihr Haar war feucht, und ihre Wangen glühten, als sie sich das Gesicht mit einem Handtuch abrieb.
Ich wartete, bis sie wiederauftauchte, und sagte dann: »Du steckst jetzt ebensotief in dieser Affäre drin wie ich, also hast du ein Stimmrecht. Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
Sie ließ das Handtuch sinken und sah mich nachdenklich an.
»Ich würde genau das tun, was du vorgehabt hast. Triff dich mit diesem Mann in Geysir und gib ihm das… dieses Ding da.«
Ich nickte. »Und wenn jemand versucht, uns aufzuhalten?«
Sie zögerte. »Wenn es Cooke ist, gib ihm das Ding. Wenn es Kennikin ist…« Sie brach ab und schüttelte bedrückt den Kopf.
Ich begriff, was sie meinte. Wenn ich Cooke das Päckchen übergab, kam ich vielleicht ungeschoren davon. Aber Kennikin würde damit nicht zufrieden sein – er wollte mir an den Kragen. »Angenommen, es ist Kennikin«, bohrte ich weiter.
»Was soll ich dann deiner Ansicht nach tun?«
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