Blindwütig: Roman
nicht mehr edelmütig, sondern wurde buchstäblich schändlich, wenn ich durch ihn darauf verzichtete, mein Leben oder das anderer unschuldiger Menschen zu verteidigen.
Nachdem die Morgendämmerung angebrochen war, mussten wir uns bald einen einsamen Ort suchen, an dem Penny mich in die Schießkunst einführen konnte.
Dann würde sie auch erfahren, dass ich ihr zu Beginn unserer Beziehung etwas Wichtiges über mich verschwiegen hatte.
Damit hatte ich sie getäuscht, aber auch mich selbst, indem ich mir einredete, ihr wichtige Informationen vorzuenthalten sei keine Form der Lüge, wo es doch eindeutig eine war.
Dass meine Eltern gestorben waren, als ich sechs war, wusste Penny. Sie hatte allerdings fälschlich angenommen, schuld daran sei ein Autounfall gewesen, und ich hatte dieses Missverständnis nicht aufgeklärt.
Sie wusste, dass ich anschließend bei einer klugen, fürsorglichen Tante namens Edith Greenwich aufgewachsen war. Ich war zwanzig gewesen, als sie an Krebs erkrankte und rasch starb.
Penny nahm an, diese unverheiratete Tante sei die Schwester meines Vaters gewesen. Auch diese Annahme hatte ich nicht korrigiert.
Tante Edith, die einzige Schwester meiner Mutter, hatte mich adoptiert und mir damit ihren Familiennamen gegeben, um dafür zu sorgen, dass ich nicht als jemand aufwuchs, den man entweder mit Mitleid oder mit Argwohn betrachtete, weil er einen Namen trug, der sich durch eine grausame Gewalttat ins öffentliche Bewusstsein eingebrannt hatte.
Weil ich mit Ausnahme einiger Cousins zweiten Grades, mit denen ich nicht in Kontakt stand, keine lebenden Verwandten hatte, dachte Penny außerdem, ich käme aus einer kleinen Familie, deren andere Zweige im Lauf der Generationen ausgestorben waren. Dem hatte ich ebenfalls nicht widersprochen.
Ohne dass Penny es wusste, hatte ich einmal einen Bruder namens Phelim gehabt, der sechs Jahre älter als ich gewesen war. Phelim kommt aus dem Irischen und bedeutet »beständig gut«. Soweit ich mich an ihn erinnern kann, passte dieser Name zu ihm. Er war ein liebevoller Bruder.
Mein Vater hieß Farrel, was ebenfalls Keltisch ist und »tapferer
Mann« bedeutet. Die deutlichste Erinnerung, die ich an ihn hatte, bewies, dass er seines Namens würdig war.
Der Name meiner Mutter war Kirsten, eine skandinavische Abwandlung von Christine. Er bedeutet schlicht »die Christliche« oder »Gottestreue«. Nach achtundzwanzig Jahren erinnerte ich mich vor allem an drei Dinge, wenn ich an sie dachte: an die Schönheit ihrer grünen Augen, an die Zärtlichkeit, mit der sie mich und Phelim behandelte, und an ihr herzhaftes, ansteckendes Lachen.
Mein Vater hatte drei Brüder: Ewen, dessen Name eine walisische Form von John ist, Kenton, Gälisch für »stattlich«, und Trahern, kurz Tray, was im alten Walisisch »stark wie Eisen« bedeutet.
An Ewen und Kenton, die älter waren als mein Vater, erinnere ich mich nicht mehr gut. Sie waren Geschäftsleute und, wie mein Vater, immer bei der Arbeit.
Trahern, der jüngste der Brüder, hatte einen kurzgeschorenen blonden Haarschopf, eine breite, violette Narbe an der Stirn, blutunterlaufene blaue Augen, aufgesprungene Lippen, einen sauren Atem, Dreck unter den Fingernägeln und eisige Hände.
Dass ich mich an diese Dinge so lebhaft erinnerte, lag an einem lange vergangenen Abend im September. Von früheren Begegnungen wusste ich hingegen überhaupt nichts mehr. Es war für mich, als wäre Tray an jenem Herbstabend wiedergeboren worden als ganz neue, einzigartige Person, deren Vergangenheit aus dem Buch der Zeit getilgt war wie bei jenen wiedergeborenen Christen, die behaupten, ihre Sünden seien durch die Taufe weggewaschen worden. Tray taufte sich an jenem Abend selbst, aber nicht mit Wasser, sondern mit Blut.
Trays Familienname - also auch der meines Vaters und der, den ich damals in jenem September noch trug - war Durant.
Womöglich erinnerte man sich inzwischen nicht mehr so gut daran wie in der Zeit, in der dieser Name wochenlang in allen Zeitungen gestanden hatte, oft in großen, fetten Lettern, und in der man ihn in den Fernsehnachrichten wiederholt hatte wie ein höllisches Mantra.
Ich hatte Tray die Tür geöffnet.
44
Ich bin sechs Jahre alt. An jedem Morgen ruft das Abenteuer.
Jeder Abend verspricht ein Geheimnis, besonders dieser Abend Mitte September.
Die Luft ist kühl, und tagsüber war das Licht klar und hart, doch nun, am Spätnachmittag, hat die Sonne an Kraft verloren. Daher leuchtet der Tag auf der Fahrt
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