Blindwütig: Roman
aus der Stadt hinaus blau, golden und verheißungsvoll.
Im Zwielicht verwandelt sich das Blau in ein Violett, aus dem ein Purpurrot geworden ist, als die Familie sich in dem geräumigen Farmhaus, das Onkel Ewen gekauft und renoviert hat, zu einer Feier versammelt.
Sein sechzehn Hektar großes Anwesen am Fluss hat früher zu einer Farm gehört, deren Ländereien man aufgeteilt hat, um sie einzeln an den Mann zu bringen.
Unter dem Schein der untergehenden Sonne strömt der Fluss rot glänzend dahin. Die Strudel im Wasser und die kleinen Wellen, die ans Ufer schwappen, lassen mich von exotischen Lebewesen träumen, die unter der Oberfläche wimmeln.
Mein Onkel hat diesen Ort erworben, um sich am Wochenende vom städtischen Leben erholen zu können. Als Mensch, der gern vorherplant, will er sich in etwa zwanzig Jahren hier auf dem Land zur Ruhe setzen.
Die Kaminböcke im Esszimmer sind aus Bronze und stellen Greifen dar. Mit ihren Flügeln sehen die Fabeltiere aus, als wollten sie aus dem Feuer auf mich zufliegen.
Mein Vater, Ewen und Kenton besitzen eine große Münzhandlung. Ihre Kunden sind Sammler von historischen Münzen sowie Leute, die sich mit zeitgenössischen Goldbarren und Münzen vor der Inflation schützen wollen.
Außerdem haben die Brüder ein eigenes Sortiment an Gold- und Silberschmuck auf den Markt gebracht. Alles, was sie anpacken, bringt guten Profit.
Während ich zwischen den Gästen umhergehe, entdecke ich im Wohnzimmer eine ungewöhnliche Standuhr, die mich fasziniert. An ihrem aus Mahagoni geschnitzten Gehäuse klettert ein Affe hinauf. Seine langen Arme greifen nach oben und umfassen das Zifferblatt; die Finger sind über der Zwölf ineinander geflochten. Der Schwanz des Affen ist das Pendel.
»Die Zeit ist ein Äffchen«, erklärt mir Onkel Ewen. »Voller Übermut, unberechenbar, flink wie ein Wiesel und mit scharfen Zähnen.«
Mit meinen sechs Jahren habe ich keine Ahnung, was er damit meint, aber ich mag seine Worte und deren geheimnisvollen Klang.
Ewen, Kenton und mein Vater sind Menschen, die ihren Erfolg mit anderen teilen. Sie sorgen für die gesamte Familie. Alle Angestellten des Geschäfts sind mit ihnen verwandt und nehmen nach einem bestimmten Schlüssel am Gewinn teil.
Nur Tray ist kein Teil dieses Unternehmens. Er hat nicht genug Verantwortungsgefühl, um für eine Stelle bei seinen Brüdern qualifiziert zu sein. Außerdem hat er ohnehin kein Interesse an echter Arbeit und würde ein entsprechendes Angebot glatt ablehnen.
Obwohl er schon mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, hat er noch nicht im Gefängnis gesessen. Wie sich später herausstellt, betreibt er ein illegales Methamphetamin-Labor.
Zur Einweihung von Ewens Haus ist die ganze Familie gekommen. Die einzigen Ausnahmen sind Tray, der nicht eingeladen ist, und Edith, die Schwester meiner Mutter, die neunhundert Meilen weit entfernt wohnt.
Samt Ewen, seiner Frau Nora und deren gemeinsamer Tochter Colleen sind neununddreißig Familienmitglieder anwesend, darunter auch eine Reihe von Kindern.
Eine Stunde nach Sonnenuntergang taucht unerwartet Tray auf. Er hat sich der Familie so sehr entfremdet, dass ihn ein halbes Jahr lang niemand gesehen hat. Deshalb kann sich auch niemand erklären, woher er von der Feier erfahren hat.
Ich bin im Hausflur, als er klopft.
Durch das Milchglasfenster, das mit einem Muster aus Mond und Wolken versehen ist, erkenne ich ihn auf der Veranda. Als er mich sieht, bringt er ein Auge an den durchsichtigen Mond und zwinkert.
Ich öffne ihm die Tür.
»Cubby«, sagt er, »wie siehst du denn aus? Dir hängt ein übler Rotzfaden aus der Nase.«
Als ich mir mit dem Ärmel die Nase abwische, lacht er, drückt mir seine feuchte, eisige Handfläche ans Gesicht und schiebt mich so brutal zur Seite, dass ich fast hinfalle.
Noch während er die Tür zuzieht, holt er die Waffe unter seinem Mantel hervor. Es ist ein kompaktes, vollautomatisches Gewehr, eigentlich eher eine kurzläufige Maschinenpistole, die man auf Einzelschuss oder Dauerfeuer stellen kann.
Er packt mich an den Haaren und zerrt mich in den Türbogen zwischen Flur und Wohnzimmer. Dort gibt er mir einen Stoß, der mich nach vorn taumeln lässt, während er auf der Schwelle stehen bleibt.
Die Menschen im Zimmer sehen die Waffe und weichen zurück, doch sie versuchen nicht, sofort zu fliehen. Vielleicht
glauben sie, die Gewalt herauszufordern, wenn sie sich deren Androhung eingestehen.
Die Gäste sind in den vier
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