Blindwütig: Roman
Abstand und gebe den Toten, wo es möglich ist, ein wenig von ihrer Würde zurück.
Ein Psychologe würde wohl sagen, dies sei das Verhalten eines Kindes, das sich in einem dissoziativen Zustand befindet, doch das stimmt nicht. Während ich mich um die Toten kümmere, ist mir zu jeder Zeit bewusst, was ich tue und wo ich mich befinde. Ich weiß auch, dass das Morden in diesem Raum und dann im nächsten weitergehen wird, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte.
Nicht nur die Furcht ist aus mir verschwunden, sondern auch das Entsetzen, und um meine Aufgabe bewältigen zu können, habe ich offenbar auch vorübergehend die Fähigkeit verloren, Ekel zu empfinden. Dies sind alles Mitglieder meiner
Familie, und im Tod kann mich nichts an ihnen anekeln, genauso wenig, wie es das im Leben getan hat.
Jedem Einzelnen sage ich Lebewohl.
Damit ich diesen Dienst tun kann, spüre ich weder Trauer noch Gram. Das wird zwar nicht so bleiben, ganz und gar nicht, aber vorläufig weine ich nicht.
Meine Cousine Carina, die in einer Woche ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert hätte, sitzt auf einem Rohrstuhl. Ihr Kopf ist schlaff an die Wand dahinter gesunken. Bevor sie erschossen wurde, hatte sie die Herrschaft über ihre Blase verloren. Ihr Rock und ihre Strümpfe sind durchnässt.
Während ich aufs Sofa zugehe, um von dort eine kamelfarbene Wolldecke zu holen, mit der ich Carinas Schoß und Beine zudecken will, kreuzt einer von Trays Freunden meinen Weg. Ich trete beiseite, um ihn vorbeizulassen.
Er ist ein bleicher Mann mit einem Schnurrbart. Üble Herpesbläschen verunzieren seine Unterlippe. Er ist auf der Suche nach Frauenhandtaschen.
Ich trage die Wolldecke zu Carina, die ich damit bedecke - »Leb wohl« -, und während ich mich umsehe, ob ich etwas für die restlichen Opfer tun kann, kramt der Mann mit den Herpesbläschen in den Handtaschen nach Geld. Den toten Männern nimmt er das Portemonnaie ab.
Er spricht nicht mit mir, und ich spreche nicht mit ihm.
Tray kommt herein und sagt zu seinem Kumpan: »Ich schaue mal nach, ob oben was zu holen ist.«
»Beeil dich, der Scheiß hier ist mir echt zu abgedreht«, bekommt er zu hören. »Wo ist eigentlich Clapper?«
»Im Esszimmer. Er macht dasselbe wie du.«
Nachdem ich für die zwanzig Toten im Wohnzimmer getan habe, was möglich war, gehe ich nach nebenan, um meine Mission fortzusetzen.
Trays zweiter Begleiter, Clapper, ist ein großer, bärtiger Kerl. Auf dem Esstisch liegen die Handtaschen und Portemonnaies der achtzehn Opfer in diesem Raum. Clapper holt das Papiergeld heraus, während er halb murmelnd, halb singend »Another One Bites the Dust« von sich gibt, einen nicht mehr ganz aktuellen Hit von Queen.
Mein Bruder Phelim, der zwölf ist, sitzt in einer Ecke auf dem Boden. Sein Rücken lehnt an den beiden Wänden, seine Beine sind gerade ausgestreckt, die Arme hängen herab. Bis auf das Loch in seiner Kehle sieht er friedlich aus. Ich sehe nichts, was ich für ihn tun könnte.
»Leb wohl.« Das flüstere ich nicht, sondern sage es laut.
Offenbar hat man den Leuten auf den Stühlen hier befohlen, die Arme hinter den Rücken zu nehmen und zwischen die horizontalen Stäbe der Lehne zu schieben. Nun sitzen sie nicht nur auf ihren Stühlen, sondern hängen auch von ihnen herab. Das hält die schlaffen Körper davon ab, auf den Boden zu sinken.
Nicola, die Frau meines Cousins Kipp, hat man erniedrigt, bevor man sie ermordet hat. Man hat ihr den Pullover halb über den Kopf gezogen, so dass nun ihr Gesicht darunter verborgen ist. Außerdem hat man ihr den BH vom Leib gerissen.
Ich bin ein Kind, das schnell verlegen wird. Deshalb achte ich sehr darauf, ihre Brüste nicht zu berühren, während ich ihr den Pulli vom Kopf ziehe und damit behutsam das bedecke, was nicht entblößt sein sollte.
Während ich mich mit dem Pulli abmühe, beendet Clapper seine Durchsuchung von Handtaschen und Portemonnaies. Die Hände voller Geldscheine, geht er ins Wohnzimmer.
Dort sprechen er und der Mann mit den Herpesbläschen miteinander, aber ich interessiere mich nicht dafür, was die beiden sich zu sagen haben.
Auf dem letzten Stuhl finde ich meine Mutter vor.
Ich möchte so gerne wenigstens etwas Kleines für sie tun.
Nach einem Augenblick sehe ich, was das sein muss. Sie ist stolz auf ihr dunkles, glänzendes Haar, doch das ist jetzt verheddert und zerzaust. Vielleicht hat jemand es gepackt und verdreht, um sie zu zwingen, sich auf den Stuhl zu setzen.
Zwischen den
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