Blindwütig: Roman
sofort, dass er mir helfen wird.
Als er auf mich zukommt, stehe ich auf. Er sagt: »Na, du bist wohl Cubby«, und ich sage: »Ja, Sir«, und er sagt: »Du bist also alleine hier«, und ich antworte wieder: »Ja, Sir.« Er fragt, wem all die Autos gehören, und ich sage: »Meinen Tanten
und Onkels und Cousins. Das da ist das von meinem Dad.« Er betrachtet die vielen erleuchteten Fenster des Hauses und fragt, wo meine Eltern sind, und ich sage: »Die sind fort, Sir«, und als er fragt, ob ich weiß, wo sie hin sind, erwidere ich: »Nein, Sir.«
Gemeinsam gehen wir zur offenen Haustür, wo er auf die Klingel drückt, und als niemand reagiert, ruft er: »Ist jemand zu Hause?«
Mir ist schon klar, dass Polizisten alles auf eine bestimmte Weise tun müssen, weil sie ihre Regeln haben, deshalb erinnere ich ihn nicht daran, dass ich alleine bin.
Er bittet mich, ihn hineinzuführen, worauf ich vor ihm durch die offene Tür mit den Wolken und dem Mond trete.
Kaum ist er über die Schwelle in den Flur getreten, da sagt er: »Junge? Cubby? Moment mal.«
Ich drehe mich um und blicke zu ihm hoch. Sein Gesicht hat sich verändert, und zwar nicht nur, weil es hier drin heller ist.
»Was ist denn?«, frage ich.
»Deine Schuhe.«
Meine Tennisschuhe sind mehr rot als weiß und feucht von Blut. Auf dem Holzboden rund um mich herum sehe ich blutige Fußspuren.
Mit der rechten Hand zieht der Deputy seinen Revolver, mit der linken zieht er mich an seine Seite und halb hinter sich.
Mit drei Schritten hat er den Türbogen zum Wohnzimmer erreicht und sagt: »O mein Gott.«
Als ich an ihm vorbeiblicke, sehe ich die vielen Toten, und jetzt fällt mir wieder ein, was geschehen ist, bevor ich mich in Colleens Zimmer schlafen gelegt habe.
Bald sind viele weitere Deputys und der Sheriff selbst im
Haus, dazu weitere Leute, die keine Uniform tragen, aber ebenso beschäftigt aussehen wie die Polizei.
Der Sheriff ist ein netter Mann, groß, relativ alt und mit Bierbauch, aber er kann nicht gut zuhören.
Ich sage, Tray und seine Freunde hätten mich nicht sehen können, weil ich keine Angst gehabt hätte. Der Sheriff sagt, ich müsse wohl ein Versteck gefunden haben.
Ich erzähle ihm, nachdem ich in Colleens Zimmer aufgewacht sei, hätte ich eine Weile vergessen, was geschehen sei. Aber weil ich keine Angst gehabt hätte und weil die Toten mir keine machen wollten, hätte ich sie nicht gesehen, genau wie Tray mich nicht sehen konnte.
Die Polizei kommt später zu dem Schluss, ich hätte meiner Mutter das Haar erst gekämmt, nachdem Tray und seine Komplizen das Haus verlassen hätten.
Aber ich kenne die Wahrheit. Die meisten Erinnerungen aus der Kindheit verblassen oder gehen ganz verloren, aber meine Erinnerungen an jene Nacht sind so klar und deutlich, als wäre es erst eine Woche her.
Ich weiß, wie ich überlebt habe. Ich weiß aber nicht, warum.
In jener Nacht und am folgenden Tag weine ich nicht. Man sagt mir, ich sei tapfer, doch das bin ich nicht. Vielmehr habe ich eine große Gnade empfangen, ein emotionales und mentales Durchstehvermögen, das die Kraft eines Sechsjährigen eigentlich bei weitem übersteigt. Es bleibt mir über den Tag hinweg erhalten, an dem mein Name geändert wird, und weil danach niemand mehr weiß, wer ich bin, kommt es den Leuten völlig unverdient vor.
Monate später trifft ein Gericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine Entscheidung, und von da an heiße ich Cubby Greenwich und lebe bei Tante Edith an einem ganz anderen Ort.
Am Abend dieser Gerichtsentscheidung kommen endlich die Trauer und die Tränen. Die Mörder sind in ihrer Zelle, die Ermordeten in ihrem Grab. Tränen können alles wegwaschen, das die Hoffnung verbaut hat, und Trauer, die uns nicht bricht, macht uns nur stärker.
Die psychischen Probleme, unter denen ich mehrere Jahre lang leide, hängen alle mit folgenden Tatsachen zusammen: Ich bin derjenige, der Tray klopfen hörte; ich habe ihn als Erster auf der Veranda gesehen; mir hat er durch den klaren Mond hindurch zugezwinkert, als wären wir Komplizen; ich bin derjenige, der ihm die Tür geöffnet hat; ich bin der einzige Überlebende.
Ich fühle mich bis zu einem gewissen Grad verantwortlich und glaube unlogischerweise, niemand außer mir hätte Tray aufgemacht.
Deshalb weigere ich mich auch lange, eine Haustür zu öffnen, wegen der irrationalen Furcht, Leute wie Tray und seine zwei Freunde könnten von mir angezogen werden, weil ich ihnen immer Einlass
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