Blink! - die Macht des Moments
Situation in dünne Scheibchen zu schneiden, ist keine magische Gabe. Sie ist ein wichtiger Bestandteil
des Menschseins. Wir wenden diese Methode an, wenn wir einen neuen Menschen kennen lernen, wenn wir ein Problem schnell erfassen
oder wenn wir eine unbekannte Situation einschätzen müssen. Wir können gar nicht anders, und wir müssen uns auf diese Fähigkeit
verlassen, denn wir müssen andauernd eine Unmenge Handschriften entziffern und kommen wieder und wieder in Situationen, in
denen uns ein dünnes Scheibchen von ein oder zwei Sekunden eine Menge verraten kann.
Es ist auffällig, wie viele verschiedene Berufe und Disziplinen ihre eigenen Begriffe für die Fähigkeit haben, eine Situation
auf einen Blick zu erfassen. Wenn ein Stürmer im Fußball den Überblick über eine komplexe Situation behält und die Bewegungen
vieler Spieler gleichzeitig abschätzen kann, dann lobt man seinen »Torinstinkt«. Im Bereich der Kriegsführung spricht man
davon, brillante Generäle wie etwa Napoleon hätten »coup d’oeil« oder »die Macht des Blicks«.
Der Vogelkundler David Sibley erzählte mir, er habe in Cape May in New Jersey aus einigen 100 Metern Entfernung einen Vogel
im Flug beobachtet und sofort gewusst, dass es sich um einen Kampfläufer, eine seltene Schnepfenart handeln musste. Er habe
noch nie zuvor einen Kampfläufer im Flug gesehen, und die Zeit war auch viel zu kurz, um den Vogel sorgfältig einzuordnen.
Aber es reichte, um einen generellen Eindruck von der Größe und |51| Form des Vogels zu bekommen und damit seine Essenz zu erfassen – und das reichte vollkommen aus.
»Die Erkennung von Vögeln hat viel mit einem subjektiven Eindruck zu tun. Sie sehen immer nur kleine Ausschnitte aus verschiedenen
Winkeln und Abfolgen von kleinen Bewegungen. Sie sehen, wie der Vogel den Kopf dreht, wie er auffliegt, wie er sich umdreht,
und das immer aus verschiedenen Richtungen«, erklärt Sibley. »Zusammengenommen ergibt das einen einmaligen Eindruck von einem
Vogel, der sich nicht aufschlüsseln oder in Worte fassen lässt. Wenn Sie in der Natur sind und Vögel beobachten, dann haben
Sie nicht die Zeit, Ihr Bestimmungsbuch herauszuziehen und zu sagen: Er hat diese oder jene Gefiedermaserung, diese oder jene
Schnabelform, hüpft so und so, und deshalb ist es diese oder jene Spezies. Es läuft viel natürlicher und instinktiver ab.
Nach einigen Jahren Übung schauen Sie einen Vogel nur flüchtig an, und es legen sich kleine Schalter in Ihrem Gehirn um. So
muss dieser und jener Vogel aussehen – Sie wissen auf den ersten Blick, was es für einer ist.«
Der Hollywood-Produzent Brian Grazer, der einige der größten Publikumserfolge der letzten zwei Jahrzehnte gedreht hat, benutzt
fast dieselben Worte, wenn er beschreibt, wie er den Schauspieler Tom Hanks entdeckte. Es war im Jahr 1983, als Hanks noch
weitgehend unbekannt war. Er hatte eine Rolle in der TV-Serie
Bosom Buddies,
an die sich heute aus gutem Grund niemand mehr erinnert. »Er ist hereingekommen, um für den Film
Splash
vorzuspielen, und ich kann Ihnen genau sagen, was ich in diesem Moment gesehen habe,« erzählt Grazer. Von der ersten Sekunde
an wusste er, dass Hanks etwas Besonderes hatte. »Wir hatten Hunderte Leute da, die für diesen Part vorsprachen, und es waren
einige dabei, die etliches witziger waren als er. Aber keiner war so liebenswert. Ich hatte sofort das Gefühl, ich wüsste,
wie es sich anfühlt, in seiner Haut zu leben. Ich hatte das Gefühl, dass seine Probleme meine Probleme sein könnten. Verstehen
Sie, wenn Sie jemanden zum Lachen bringen wollen, dann muss dieser Sie erst |52| interessant finden, und um interessant zu sein, muss man Dinge tun, die gemein sind. Eine Komödie beginnt mit Ärger, sonst
entsteht kein Konflikt. Aber er war auf eine Art und Weise gemein, die man ihm sofort verzeihen konnte, und das ist wichtig,
denn Sie sollen ihn ja auch dann noch sympathisch finden, wenn er seine Freundin verlässt und alle möglichen Entscheidungen
trifft, die Ihnen als Zuschauer nicht gefallen. Natürlich habe ich das in diesem Moment nicht so analysiert. Es war eine intuitive
Entscheidung, die ich erst später in Worte fassen konnte.«
Ich nehme an, dass viele von Ihnen einen ähnlichen Eindruck von Tom Hanks haben. Wenn ich Sie fragen würde, welche Persönlichkeit
er wohl hat, dann würden Sie ihn vermutlich als anständig, verlässlich, bodenständig und witzig beschreiben.
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