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Blink! - die Macht des Moments

Titel: Blink! - die Macht des Moments Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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beantworten – er muss ihn als Menschen behandeln. |48| Die Ärzte, die diese einfache Regel nicht befolgen, sind diejenigen, die am Ende vor Gericht landen.«
    Wenn wir wissen wollen, welcher Chirurg von seinen Patienten auf Schmerzensgeld verklagt wird, ist es gar nicht notwendig
     zu wissen, mit welchem Erfolg er bislang operiert hat. Sie müssen sich nur ansehen, wie dieser Chirurg mit seinen Patienten
     umgeht.
    Die Medizinsoziologin Wendy Levinson hat Hunderte solcher Gespräche zwischen Chirurgen und ihren Patienten aufgezeichnet.
     Ungefähr die Hälfte der Ärzte aus der untersuchten Gruppe war nie verklagt worden, die andere Hälfte hatte mindestens zweimal
     vor Gericht gestanden. Allein aufgrund der Videoaufnahmen konnte Levinson klare Unterscheidungsmerkmale zwischen diesen beiden
     Gruppen herausarbeiten. Die Chirurgen, die noch nie verklagt worden waren, nahmen sich durchschnittlich drei Minuten mehr
     Zeit für ihre Patienten (18,3 statt 15 Minuten). Sie gaben dem Patienten mehr Orientierungshilfen, indem sie zum Beispiel
     sagten: »Ich untersuche Sie zuerst, und dann sprechen wir über das Problem« oder »Wir nehmen uns später Zeit für Ihre Fragen.«
     Damit bekamen die Patienten ein Gefühl dafür, was bei ihrem Besuch passieren würde und wann sie ihre Fragen stellen konnten.
     Diese Gruppe der Ärzte zeichnete sich durch aktives Zuhören aus und ermunterte die Patienten, mehr zu erzählen. Außerdem lachten
     sie während des Gesprächs eher oder machten humorvolle Bemerkungen. Bezeichnenderweise gaben sie ihren Patienten auch nicht
     mehr Details als die andere Gruppe und klärten sie nicht besser über ihren Gesundheitszustand oder die Medikation auf. Der
     Unterschied bestand allein darin, wie sie sich mit ihren Patienten unterhielten.
    Die Analyse von Wendy Levinson lässt sich noch ein Stück weiter vereinfachen. Die Psychologin Nalini Ambady wählte für jeden
     Chirurgen nur zwei Videoaufnahmen aus, und aus diesen wiederum wählte sie jeweils zwei zehnsekündige Clips, sodass sie schließlich
     für jeden Arzt 40 Sekunden Videomaterial zur Verfügung hatte. Von der Tonspur entfernte sie die hochfrequenten |49| Töne, sodass sie nicht mehr in der Lage war, einzelne Wörter zu verstehen und den Inhalt des Gesprächs zu verfolgen. Was übrig
     blieb, waren Satzmelodie, Sprechrhythmus und Tonhöhe ohne jeden Inhalt. Mit diesen Scheibchen führte Ambady eine Untersuchung
     durch, die der Gottmans sehr ähnlich ist. Von unabhängigen Juroren ließ sie diese kurzen Ausschnitte danach beurteilen, wie
     warm, feindselig, herrisch oder ängstlich die Stimmen klangen, und stellte fest, dass sie allein aufgrund dieser Beurteilungen
     Vorhersagen darüber treffen konnte, welche Ärzte verklagt würden und welche nicht.
    Ambady berichtet, sie und ihre Kollegen seien »von den Ergebnissen völlig umgehauen« worden, und diese Überraschung ist leicht
     zu verstehen. Die Juroren hatten keine Ahnung von der fachlichen Kompetenz oder Inkompetenz der Chirurgen, sie wussten nichts
     über deren Ausbildung oder Operationsmethoden. Sie konnten nicht einmal verstehen, was diese Ärzte ihren Patienten mitteilten.
     Das Einzige, woran sie sich orientieren konnten, war die Stimme. Es war sogar noch einfacher: Wenn der Arzt oder die Ärztin
     herrisch klang, dann gehörte er oder sie zur Gruppe der Beklagten. Klang die Stimme weniger herrisch als vielmehr besorgt,
     dann gehörte er oder sie mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht zu dieser Gruppe. Gibt es ein dünneres Scheibchen? Ein Behandlungsfehler
     klingt nach einem extrem komplizierten Sachverhalt. Aber am Ende geht es um nichts anderes als um den Respekt, den ein Arzt
     seinen Patienten entgegenbringt, und dieser Respekt äußert sich unter anderem im Tonfall. Ambady musste nicht erst die gesamte
     Vorgeschichte der Ärzte und Patienten durchforsten, denn ein Arzt-Patient-Gespräch funktioniert ähnlich wie John Gottmans
     Konfliktsituation oder Samuel Goslings Blick ins Wohnheimzimmer. Es ist eine jener Situationen, in denen die Handschrift eines
     Menschen klar und deutlich sichtbar wird.
    Wenn Sie also das nächste Mal beim Arzt sind, dann hören Sie genau hin. Wenn Sie das Gefühl haben, er hört Ihnen nicht |50| zu, redet von oben herab und behandelt Sie nicht mit Respekt, dann hören Sie auf dieses Gefühl. Sie haben sein Verhalten in
     dünne Scheibchen geschnitten, gewogen und für zu leicht befunden.
    Die Macht des Blicks
    Die Fähigkeit, eine

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