Blink! - die Macht des Moments
fällt.
Im Grunde unterscheidet sich die Inspektion eines Wohnheimzimmers durch Samuel Goslings Tester nicht sehr von Gottmans Untersuchungen,
wenn man davon absieht, dass die Beobachter Amateure sind und keine Liste mit 20 komplexen Kategorien bekommen. Die Tester
waren auf der Suche nach der »Handschrift« der Studenten und sollten intuitiv darauf reagieren. Sie hatten 15 Minuten Zeit,
sich umzusehen und eine Ahnung zu entwickeln, wie die Person wohl sein könnte, die das Zimmer bewohnt. Auch sie näherten sich
der Frage durch die Hintertür, indem sie Indizien |46| aus dem Wohnheimzimmer sammelten. Ihr Entscheidungsprozess war stark vereinfacht: Sie wurden nicht durch alle möglichen verwirrenden
und unwichtigen Informationen abgelenkt, die bei einem Treffen von Angesicht zu Angesicht vom Wesentlichen ablenken. Sie schnitten
die Situation in dünne Scheibchen. Das Ergebnis war dasselbe wie bei Gottman: Die Fremden mit dem Klemmbrett waren in der
Lage, ausgezeichnete Einschätzungen abzugeben.
Beim Arzt
Treiben wir das Scheibchenschneiden einen Schritt weiter. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten für eine Versicherungsfirma,
die Ärzten eine Rechtsschutzversicherung gegen Behandlungsfehler verkauft. Sie sollen herausfinden, welcher der Ärzte in Ihrer
Kartei wohl am ehesten von seinen Patienten auf Schmerzensgeld verklagt wird. Sie haben wiederum zwei Möglichkeiten zur Auswahl:
Zum einen können Sie sich die Lebensläufe von Ärzten ansehen, ihre Abschlüsse inspizieren und ihre Akten danach durchforsten,
wie viele Fehler sie in den letzten Jahren gemacht haben. Oder sie sehen sich Videoaufnahmen von Gesprächen mit Patienten
an.
Vermutlich können Sie sich inzwischen denken, dass ich für die zweite Möglichkeit plädieren würde. Sie haben Recht, und ich
will Ihnen auch verraten, warum das so ist. Ob Sie es glauben oder nicht: Die Frage, ob ein Chirurg wegen eines Operationsfehlers
verklagt wird oder nicht, hat nichts damit zu tun, ob ihm tatsächlich ein medizinischer Fehler unterläuft oder nicht. Eine
Analyse von Prozessakten hat ergeben, dass es gerade die gut ausgebildeten Fachärzte sind, die häufig verklagt werden, während
andere, die viele Fehler machen, sich nie vor Gericht verantworten müssen. Gleichzeitig stellen wir fest, dass die überwiegende
Mehrzahl der Patienten, die einen |47| Behandlungsfehler erleidet, den Fall nicht zur Anzeige bringt. Mit anderen Worten, Patienten verklagen ihren Arzt nicht etwa,
weil sie durch schlampige Behandlung zu Schaden kommen. Sie verklagen ihren Arzt, weil sie durch schlampige Behandlung zu
Schaden kommen
und
weil darüber hinaus noch irgendetwas anderes passiert ist.
Was aber ist dieses andere? Es ist die Art und Weise, wie sie auf einer menschlichen Ebene von ihrem Arzt behandelt werden.
Immer und immer wieder taucht in den Akten auf, dass Patienten, die ihren Fall vor Gericht bringen, sich von ihrem Arzt nicht
ausreichend wahrgenommen fühlten. »Patienten verklagen niemanden, den sie gut leiden können«, sagt Alice Burkin, eine führende
Anwältin auf diesem Gebiet. »In all den Jahren, in denen ich Patienten vertrete, hat noch nie einer zu mir gesagt: ›Ich finde
diesen Arzt sehr sympathisch und ich tue es wirklich ungern, aber ich möchte ihn auf Schmerzensgeld verklagen.‹ Ich hatte
schon Klienten, die mir sagten, sie wollten einen Facharzt verklagen. Wenn wir ihnen dann sagen, dass wir die Schuld nicht
beim Facharzt sehen, sondern bei der Hausärztin, die eine falsche Erstdiagnose gemacht hat, dann sagen sie: ›Das ist mir egal.
Ich bin zufrieden mit ihr und werde sie nicht verklagen.‹«
Alice Burkin erzählte mir von einer Klientin, deren Brustkrebs erst entdeckt worden war, nachdem sich schon Metastasen gebildet
hatten, und die ihre Internistin für die verspätete Diagnose verklagen wollte. Die Fehldiagnose war jedoch eindeutig die Schuld
des Radiologen. Trotzdem war die Klientin eisern: Sie wollte die Internistin verklagen. »Schon bei unserem ersten Termin erzählte
sie mir, sie habe eine Abneigung gegen die Internistin, weil diese sich nie die Zeit genommen habe, sich mit ihr zu unterhalten
und sie nach ihren Symptomen zu befragen. Die Klientin sagte zu mir: ›Sie hat mich nie als Mensch behandelt.‹ Wenn ein Patient
einen schlechten medizinischen Befund bekommt, dann muss sich der Arzt die Zeit nehmen, diesen Befund zu erklären und die
Fragen des Patienten zu
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