Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blink! - die Macht des Moments

Titel: Blink! - die Macht des Moments Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
Vom Netzwerk:
fällt.
    Im Grunde unterscheidet sich die Inspektion eines Wohnheimzimmers durch Samuel Goslings Tester nicht sehr von Gottmans Untersuchungen,
     wenn man davon absieht, dass die Beobachter Amateure sind und keine Liste mit 20 komplexen Kategorien bekommen. Die Tester
     waren auf der Suche nach der »Handschrift« der Studenten und sollten intuitiv darauf reagieren. Sie hatten 15 Minuten Zeit,
     sich umzusehen und eine Ahnung zu entwickeln, wie die Person wohl sein könnte, die das Zimmer bewohnt. Auch sie näherten sich
     der Frage durch die Hintertür, indem sie Indizien |46| aus dem Wohnheimzimmer sammelten. Ihr Entscheidungsprozess war stark vereinfacht: Sie wurden nicht durch alle möglichen verwirrenden
     und unwichtigen Informationen abgelenkt, die bei einem Treffen von Angesicht zu Angesicht vom Wesentlichen ablenken. Sie schnitten
     die Situation in dünne Scheibchen. Das Ergebnis war dasselbe wie bei Gottman: Die Fremden mit dem Klemmbrett waren in der
     Lage, ausgezeichnete Einschätzungen abzugeben.
    Beim Arzt
    Treiben wir das Scheibchenschneiden einen Schritt weiter. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten für eine Versicherungsfirma,
     die Ärzten eine Rechtsschutzversicherung gegen Behandlungsfehler verkauft. Sie sollen herausfinden, welcher der Ärzte in Ihrer
     Kartei wohl am ehesten von seinen Patienten auf Schmerzensgeld verklagt wird. Sie haben wiederum zwei Möglichkeiten zur Auswahl:
     Zum einen können Sie sich die Lebensläufe von Ärzten ansehen, ihre Abschlüsse inspizieren und ihre Akten danach durchforsten,
     wie viele Fehler sie in den letzten Jahren gemacht haben. Oder sie sehen sich Videoaufnahmen von Gesprächen mit Patienten
     an.
    Vermutlich können Sie sich inzwischen denken, dass ich für die zweite Möglichkeit plädieren würde. Sie haben Recht, und ich
     will Ihnen auch verraten, warum das so ist. Ob Sie es glauben oder nicht: Die Frage, ob ein Chirurg wegen eines Operationsfehlers
     verklagt wird oder nicht, hat nichts damit zu tun, ob ihm tatsächlich ein medizinischer Fehler unterläuft oder nicht. Eine
     Analyse von Prozessakten hat ergeben, dass es gerade die gut ausgebildeten Fachärzte sind, die häufig verklagt werden, während
     andere, die viele Fehler machen, sich nie vor Gericht verantworten müssen. Gleichzeitig stellen wir fest, dass die überwiegende
     Mehrzahl der Patienten, die einen |47| Behandlungsfehler erleidet, den Fall nicht zur Anzeige bringt. Mit anderen Worten, Patienten verklagen ihren Arzt nicht etwa,
     weil sie durch schlampige Behandlung zu Schaden kommen. Sie verklagen ihren Arzt, weil sie durch schlampige Behandlung zu
     Schaden kommen
und
weil darüber hinaus noch irgendetwas anderes passiert ist.
    Was aber ist dieses andere? Es ist die Art und Weise, wie sie auf einer menschlichen Ebene von ihrem Arzt behandelt werden.
     Immer und immer wieder taucht in den Akten auf, dass Patienten, die ihren Fall vor Gericht bringen, sich von ihrem Arzt nicht
     ausreichend wahrgenommen fühlten. »Patienten verklagen niemanden, den sie gut leiden können«, sagt Alice Burkin, eine führende
     Anwältin auf diesem Gebiet. »In all den Jahren, in denen ich Patienten vertrete, hat noch nie einer zu mir gesagt: ›Ich finde
     diesen Arzt sehr sympathisch und ich tue es wirklich ungern, aber ich möchte ihn auf Schmerzensgeld verklagen.‹ Ich hatte
     schon Klienten, die mir sagten, sie wollten einen Facharzt verklagen. Wenn wir ihnen dann sagen, dass wir die Schuld nicht
     beim Facharzt sehen, sondern bei der Hausärztin, die eine falsche Erstdiagnose gemacht hat, dann sagen sie: ›Das ist mir egal.
     Ich bin zufrieden mit ihr und werde sie nicht verklagen.‹«
    Alice Burkin erzählte mir von einer Klientin, deren Brustkrebs erst entdeckt worden war, nachdem sich schon Metastasen gebildet
     hatten, und die ihre Internistin für die verspätete Diagnose verklagen wollte. Die Fehldiagnose war jedoch eindeutig die Schuld
     des Radiologen. Trotzdem war die Klientin eisern: Sie wollte die Internistin verklagen. »Schon bei unserem ersten Termin erzählte
     sie mir, sie habe eine Abneigung gegen die Internistin, weil diese sich nie die Zeit genommen habe, sich mit ihr zu unterhalten
     und sie nach ihren Symptomen zu befragen. Die Klientin sagte zu mir: ›Sie hat mich nie als Mensch behandelt.‹ Wenn ein Patient
     einen schlechten medizinischen Befund bekommt, dann muss sich der Arzt die Zeit nehmen, diesen Befund zu erklären und die
     Fragen des Patienten zu

Weitere Kostenlose Bücher