Blink! - die Macht des Moments
politischen Fragen blieb er stets vage und unentschieden. Einer seiner politischen Gegner beschrieb seine Reden
einmal als »eine Armee pompöser Phrasen, die auf der Suche nach einem Gedanken durch die Gegend irrt.« Im Jahr 1914 wurde
Warren Harding in den US-Senat gewählt, doch an den Debatten zu den wichtigsten Fragen dieser Zeit – dem Frauenwahlrecht und
dem Alkoholverbot – nahm er gar nicht erst teil. Seinen unaufhaltsamen Aufstieg von der Regionalpolitik Ohios ins Weiße Haus
verdankte er seiner Frau Florence, die ihn mit ihrem unermüdlichen Ehrgeiz immer weiter antrieb, den Intrigen von Henry Daughterty,
der hinter den Kulissen die Fäden fest in der Hand hielt, und |80| vor allem seinem Aussehen – von Jahr zu Jahr wurde er immer unwiderstehlicher. Während eines Banketts im Rahmen einer Wahlveranstaltung
rief einer seiner Anhänger aus: »Verdammt, der Mann
sieht einfach
aus wie ein Senator!« Sein Biograf Francis Russell beschreibt den Fünfzigjährigen so: »Seine geschwungenen schwarzen Augenbrauen
setzten sich von dem stahlgrauen Haar ab und verliehen ihm eine Aura der Macht, seine breiten Schultern und seine bronzene
Haut strahlten blendende Gesundheit aus.« Laut Russell hätte er sich eine Toga überziehen und in einer Aufführung von Shakespeares
Julius Caesar
auf die Bühne steigen können.
Daugherty sorgte dafür, dass Harding 1916 auf dem Parteitag der Republikaner, auf dem der Kandidat für die Präsidentschaftswahlen
nominiert wurde, eine kurze Rede hielt, denn er wusste, dass die Delegierten Harding nur sehen und seine klangvolle Stimme
hören mussten, um auf der Stelle überzeugt zu sein, dass dieser Mann das Zeug zu höheren Ämtern hatte. Im Jahr 1920 überredete
Daugherty Harding schließlich, für die Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Harding widerstrebte die Vorstellung zunächst,
doch Daugherty ließ nicht locker.
»Seit ihrer ersten Begegnung war sich Daugherty sicher, dass Harding einen großartigen Präsidenten abgeben würde«, schreibt
Sullivan. »Manchmal sagte Daugherty auch – vielleicht unbewusst, aber zutreffender – er würde einen ›großartig
aussehenden
Präsidenten‹ abgeben.« Beim Nominierungsparteitag der Republikaner ging Harding als sechster von sechs Kandidaten ins Rennen.
Doch Daugherty machte sich deswegen keine Sorgen. Die Delegierten waren in zwei gleich große Lager gespalten, und keiner der
beiden stärksten Kandidaten hatte Aussicht, die erforderliche Mehrheit zu bekommen. Daugherty wusste, dass sich die Delegierten
in dieser Situation nach einem Kompromisskandidaten umsehen mussten. Und was lag in diesem Moment näher, als einen Mann zu
wählen, der gesunden Menschenverstand und präsidentiale Würde ausstrahlte? Und so kam es dann |81| auch. Nach endlosen Verhandlungsrunden in den verrauchten Hinterzimmern des Blackstone Hotels in Chicago waren die Parteibosse
in den frühen Morgenstunden der Verzweiflung nahe und begannen händeringend nach einem Kandidaten zu suchen, auf den sich
alle einigen konnten. Eine Name machte sofort die Runde: Harding! Sah er nicht aus wie der perfekte Präsident? So wurde aus
Senator Harding der Präsidentschaftskandidat Harding und im Herbst desselben Jahres, nach einem Wahlkampf, den er von der
Veranda seines Hauses in Marion, Ohio aus geführt hatte, der Präsident Harding. Nach zwei Jahren Amtszeit erlag Harding überraschend
einem Schlaganfall. Er war, so die übereinstimmende Meinung aller Historiker, einer der miserabelsten Präsidenten, den die
Vereinigten Staaten von Amerika je hatten.
Die dunkle Seite der dünnen Scheibchen
In den vorangegangenen Kapiteln habe ich versucht, Ihnen zu zeigen, dass unser Unbewusstes in der Lage ist, unter die Oberfläche
einer Situation zu tauchen und augenblicklich das Wichtigste herauszufiltern. Thomas Hoving, Evelyn HarrisScon und die griechischen
Kunstexperten waren in der Lage, die Fälschung auf einen Blick als solche zu entlarven. Susan und Bill sahen aus wie ein glückliches
und liebevolles Paar, doch nachdem wir hinter die Kulissen geschaut und ihre Interaktion in dünne Scheibchen zerlegt hatten,
ergab sich plötzlich ein ganz anderes Bild. Nalini Ambadys Forschungsarbeit zeigt, dass uns oberflächliche Zeichen wie der
weiße Kittel und die Diplome an der Wand einer Chirurgin weniger darüber verraten, ob sie von ihren Patienten auf Schadensersatz
verklagt wird, als ihre Stimme. Aber was passiert,
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