Blink! - die Macht des Moments
gar nicht erklären können.
Anfang der dreißiger Jahre machte der Psychologe Norman R. F. Maier folgendes Experiment. In einem Raum, der mit allerhand
Gegenständen, Werkzeugen und Möbeln voll gestellt war, hängte er in einigem Abstand zueinander zwei Seile von der Decke. Die
Seile waren lang genug, um sie zusammenknoten zu können, aber so weit voneinander entfernt, dass man, wenn man das Ende des
einen in der Hand hielt, das Ende des anderen nicht mehr zu fassen bekam. Jede Testperson, die den Raum betrat, bekam dieselbe
Aufgabe: Sie sollten so viele verschiedene Wege wie möglich finden, die beiden Taue zusammenzubinden. Es gab im Ganzen vier
verschiedene Möglichkeiten: Eine war, ein Seil so nahe wie möglich zum anderen hinzuziehen, es an einem Stuhl oder einem anderen
Gegenstand festzubinden und dann das zweite Seil heranzuholen. |75| Eine andere Möglichkeit war, ein weiteres Seil gewissermaßen als Verlängerungsschnur an eines der Seilenden anzubinden und
es damit zum anderen zu ziehen. Schließlich war es möglich, das Ende des einen Seils in die Hand zu nehmen und das andere
mit Hilfe eines Gegenstandes wie etwa einer langen Stange heranzuziehen. Maier stellte fest, dass die meisten Testpersonen
recht schnell auf diese drei Lösungswege kamen. Es gab jedoch noch eine vierte Lösungsmöglichkeit, nämlich, das eine Seil
wie ein Pendel zum Schwingen zu bringen und unterdessen das andere heranzuziehen. Auf diese vierte Lösung kamen nur wenige,
die übrigen Testpersonen kamen einfach nicht weiter. Maier ließ sie zehn Minuten lang überlegen, dann durchquerte er wortlos
den Raum und stieß dabei scheinbar unabsichtlich gegen eines der Seile, sodass es hin- und herschwang. Und tatsächlich hatten
die meisten der Testpersonen plötzlich ein Aha-Erlebnis und entdeckten die Möglichkeit, das Seil in Pendelschwingungen zu
versetzen. Aber wenn Maier nachfragte, wie sie denn auf diesen Lösungsweg gekommen seien, konnten nur wenige die richtige
Antwort geben. Maier schrieb: »Sie sagten zum Beispiel: ›Es fiel mir plötzlich ein‹; ›Es war die einzige Möglichkeit, die
übrig war‹; ›Mir fiel plötzlich ein, dass ein Seil schwingt, wenn ich ein Gewicht dranhänge‹, ›Kann sein, dass ich mich an
meinen Physikunterricht erinnert habe‹; ›Ich dachte darüber nach, wie ich das Seil zu mir herbekommen könnte, und es konnte
nur gehen, wenn ich es hin- und herschwingen ließ‹. Ein Psychologieprofessor sagte schließlich: ›Nachdem jede andere Möglichkeit
ausgeschöpft war, blieb nur diese übrig. Ich habe daran gedacht, wie man mit Lianen über einen Fluss schwingt. Ich hatte ein
Bild von Affen vor Augen, die von Ast zu Ast durch den Wald schwingen. Nachdem mir dieses Bild in den Sinn gekommen war, hatte
ich auch schon die Lösung. Der Gedanke schien mir rund.‹«
Haben diese Menschen gelogen? Schämten sie sich, die Wahrheit zuzugeben: dass sie das Rätsel erst lösen konnten, nachdem sie
einen Hinweis erhalten hatten? Ganz und gar nicht. Maiers |76| Hilfestellung war jedoch so subtil, dass die meisten der Testpersonen sie nur unbewusst wahrnahmen. Der Hinweis wurde hinter
der verschlossenen Tür verarbeitet, Maiers Versuchspersonen wussten nicht, wie sie auf die Lösung gekommen waren, und konnten
im Nachhinein nur noch rationalisierte Erklärungsversuche abgeben, die ihnen selbst plausibel erschienen.
Das ist der Preis, den wir für die vielen Vorteile der verschlossenen Tür bezahlen. Wenn wir Menschen bitten, uns zu erklären,
wie sie denken, dann müssen wir ihre Antworten vorsichtig interpretieren – besonders wenn unser Unbewusstes eine Rolle spielt.
Wenn es um die Liebe geht, dann kennen wir das alle. Niemand von uns kann im Vorhinein rational beschreiben, in was für einen
Menschen er sich schließlich verlieben wird. Deshalb gehen wir aus: Wir wollen unsere Theorien ausprobieren, feststellen,
zu wem wir uns hingezogen fühlen und zu wem nicht. Und jeder weiß, dass es besser ist, sich das Tennisspielen oder eine andere
Sportart von einem Experten auf dem Feld beibringen zu lassen, als sie bloß mündlich beschrieben zu bekommen. Wir lernen von
Beispielen und durch Erfahrung, denn wir wissen um die Grenzen einer rein theoretischen Ausbildung. Aber in vielen anderen
Lebensbereichen vergessen wir, dass sich vieles hinter der verschlossenen Tür abspielt und wir nicht in der Lage sind, es
zu beschreiben. Es gibt Momente, in
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