Blink! - die Macht des Moments
hörte. »Ich habe auf die Uhr gesehen«, erzählt van Riper. »Und das habe ich deshalb
getan, weil ich mir vorgenommen hatte, fünf Minuten lang nichts zu unternehmen. Ich wusste, wenn sie Hilfe brauchen, dann
fordern sie sie an. Und wenn nach fünf Minuten alles ruhig war, dann habe ich nichts unternommen. Sie müssen den Leuten Zeit
geben, die Situation selbst zu klären und herauszufinden, was los ist. Wenn Sie gleich anrufen, besteht die Gefahr, dass die
Ihnen irgendwas erzählen, nur um Sie loszuwerden. Und wenn Sie auf dieser Grundlage handeln, dann können Sie große Fehler
machen. Und Sie lenken sie ab. Jetzt erwarten sie etwas von oben, statt sich die Lage selbst anzusehen. Sie verhindern, dass
sie die Situation selbst bereinigen.«
Van Riper hatte seine Lektion längst gelernt, als er später die Führung des roten Teams übernahm. »Als Erstes habe ich meinen
Leuten gesagt, dass ich die Führung habe, aber nicht die Kontrolle«, erzählt van Riper und wiederholt damit die Worte von
Managementguru Kevin Kelly. »Das heißt, die Richtlinien kommen von mir und den hochrangigen Offizieren, aber die Truppen sollten
nicht von komplizierten Befehlen von oben abhängig sein. Sie sollten Eigeninitiative entwickeln und innovativ vorgehen. Von
oben kam die Order, die blaue Flotte von allen Seiten anzugreifen, aber die Umsetzung lag beim Kommandanten der roten Luftstreitkräfte.
Der hatte fast jeden Tag neue Ideen, wie er das anstellen könnte. Er hat nie detaillierte Anweisungen bekommen, wie er vorgehen
sollte. Nur die generelle Richtung.«
Nachdem die Kampfhandlungen begonnen hatten, wollte van Riper keine Nabelschau. Er wollte keine langen Meetings und keine
langatmigen Erklärungen. »Ich habe meinen Leuten gesagt, dass ich keine der Begrifflichkeiten hören wollte, wie sie |122| das blaue Team verwendete. Sie sollten Wörter wie ›Effekte‹ aus ihrem Wortschatz streichen. Ich wollte nichts von Operational
Net Assessment hören. Wir wollten uns erst gar nicht in diese mechanistische Herangehensweise verstricken. Wir wollten auf
die Intelligenz, die Erfahrung und die Urteilsfähigkeit unserer Leute setzen.«
Dieses Managementsystem brachte natürlich gewisse Risiken mit sich. Es bedeutete, dass van Riper nie genau wusste, was seine
Truppen vorhatten. Es bedeutete auch, dass er seinen Untergebenen eine Menge Vertrauen entgegenbringen musste. Es war, wie
er selbst sagt, ein chaotischer und schmutziger Entscheidungsprozess. Aber er hatte einen großen Vorteil: Wenn Menschen handeln
können, ohne wortreich erklären zu müssen, warum sie so handeln, dann hat das dieselbe Wirkung wie die Zustimmungsregel beim
Improvisationstheater: Es setzt die Fähigkeit zu schnellem Denken frei.
Um Ihnen zu zeigen, wie das funktioniert, will ich Ihnen ein einfaches Beispiel geben. Erinnern Sie sich an das Gesicht des
Kellners oder der Kellnerin, die Sie bei Ihrem letzten Besuch in einem Restaurant bedient hat, an die Person, die heute im
Bus neben Ihnen gesessen hat, oder an irgendeinen Fremden, den Sie kürzlich gesehen haben. Könnten Sie diese Person in einer
Gegenüberstellung auf der Polizeiwache identifizieren? Ich nehme an, Sie hätten keine Schwierigkeiten. Die Fähigkeit, ein
Gesicht wiederzuerkennen, ist ein klassisches Beispiel für unsere unbewussten Denkprozesse. Wir müssen nicht lange nachdenken,
wir sehen Gesichter einfach vor unserem geistigen Auge. Aber stellen Sie sich vor, Sie sollten Papier und Bleistift zur Hand
nehmen und diese Person so detailliert wie möglich beschreiben. Wie sah ihr Gesicht aus? Welche Haarfarbe hatte sie? Wie war
sie gekleidet? Trug sie Schmuck? Ob Sie es glauben oder nicht, nach der Beschreibung wird es Ihnen schwerer fallen, diese
Person in der Gegenüberstellung zu identifizieren. Das liegt daran, dass sich die Tätigkeit der Beschreibung negativ auf unsere
Fähigkeit auswirkt, ein Gesicht zu erkennen.
|123| Der Psychologe Jonathan W. Schooler, der auf diesem Forschungsgebiet Pionierarbeit geleistet hat, spricht von »verbalen Überschattungen«.
Die linke Hälfte Ihres Gehirns denkt in Begriffen, die rechte dagegen in Bildern, und wenn Sie ein Gesicht mit Worten beschreiben
sollen, dann ersetzen diese Begriffe Ihr Bildgedächtnis. Sie denken nun nicht mehr mit der rechten, sondern mit der linken
Gehirnhälfte. Bei der zweiten Gegenüberstellung erinnern Sie sich deshalb nicht mehr daran, wie die Kellnerin
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