Blink! - die Macht des Moments
weiß nicht, wie ich aufgestanden bin, ob ich mich mit den Händen hochgezogen
habe oder einfach aufgestanden bin oder wie. Ich weiß es nicht. Aber als ich gestanden habe, da konnte ich wieder hören. Ich
habe die Patronen gehört, die noch auf dem Boden herumgerollt sind. Die Zeit ist auch wieder normal gelaufen, denn während
wir geschossen haben, war sie langsamer gelaufen. Das hat angefangen, als er auf uns zugerannt kam. Obwohl ich genau gewusst
habe, dass er rennt, hat es so ausgesehen, als würde er sich in Zeitlupe bewegen. Das Verrückteste, was ich je gesehen habe.
Ich nehme an, Sie finden diese Geschichten genauso verwunderlich wie ich. Im ersten Auszug schildert der Polizeibeamte einen
Vorgang, der völlig unmöglich erscheint: Kann er wirklich sehen, wie seine Kugeln den anderen Mann treffen? Mindestens ebenso
seltsam ist die Behauptung des zweiten Polizeibeamten, er habe nicht gehört, wie seine Pistole losging. Wie kann das sein?
Doch in den Interviews mit Polizisten, die in Schießereien verwickelt waren, tauchen diese Details wieder und wieder auf:
außergewöhnlich klare Sicht, Tunnelblick, reduziertes Gehör und das Gefühl, dass die Zeit langsamer vergeht. Auf diese Weise
reagiert der menschliche Körper auf außergewöhnliche Belastung, und das ist auch sehr sinnvoll. In einer lebensbedrohlichen
Situation reduziert unser Gehirn die Menge an Informationen, mit der wir |219| umgehen müssen. Gehör, Erinnerung oder zwischenmenschliches Verständnis der Situation werden geopfert zugunsten einer gesteigerten
Wahrnehmung dessen, was sich direkt vor unseren Augen abspielt. Die Polizisten, die Klinger beschreibt, erhöhen durch diese
Reduzierung der Sinneseindrücke ihre Überlebenschance: Der Tunneleffekt erlaubt es ihnen, sich auf die unmittelbare Bedrohung
zu konzentrieren.
Was aber passiert, wenn die Belastungsreaktion extrem groß wird? Dave Grossman, früherer Oberstleutnant der US-Armee, schreibt
in seinem Buch
On Killing,
der ideale »Erregungszustand«, in dem der Stress die Leistung erhöhe, liege bei einer Pulsfrequenz von 115 bis 145. Grossman
schreibt, bei Wettkämpfen habe der Puls des Weltklasseschützen Ron Avery an der Obergrenze dieser Spanne gelegen. Der Basketballstar
Larry Bird erzählte immer, in kritischen Momenten des Spiels käme es ihm vor, als würde die Halle ganz still und die Spieler
bewegten sich in Zeitlupe. Es scheint, als habe er innerhalb dieses optimalen Erregungszustandes gespielt, in dem auch Ron
Avery seine Wettkämpfe bestritt. Aber es gibt nicht viele Spieler, die das Spielfeld so wahrnehmen wie Larry Bird, und der
Grund dafür ist, dass nur wenige Menschen diesen optimalen Zustand erreichen. Auf Druck reagieren die meisten Menschen eher
mit einem Übermaß an Erregung, und jenseits eines bestimmten Punktes filtert unser Gehirn so viele Informationen heraus, dass
wir wie gelähmt sind und nicht mehr handeln können.
»Jenseits einer Pulsfrequenz von 145 passieren unangenehme Dinge«, schreibt Grossman. »Wir sind nicht mehr zu komplexen Bewegungsabläufen
in der Lage. Es wird schwierig, mit jeder Hand eine andere Tätigkeit auszuführen. Ab einem Puls von 175 brechen sämtliche
kognitiven Prozesse zusammen ... Das Großhirn schaltet sich ab, und das Mittelhirn – der Teil des Gehirns, den Sie mit Ihrem
Hund gemeinsam haben – nimmt die Zügel in die Hand. Haben Sie je versucht, mit einem wütenden oder verängstigten Menschen
zu diskutieren? Vergessen Sie es. |220| Genauso gut könnten Sie versuchen, mit Ihrem Hund zu diskutieren.«
Der Blick verengt sich noch weiter, das Verhalten wird unangemessen aggressiv. Es kommt außergewöhnlich häufig vor, dass Menschen,
auf die geschossen wird, sich buchstäblich in die Hosen machen, da der Körper es in einer derartigen Stresssituation, die
mit einem Puls von mehr als 175 einhergeht, nicht mehr für wichtig hält, Blase oder Schließmuskel zu kontrollieren. Das Blut
wird aus den äußeren Muskeln abgezogen und konzentriert sich im Innern des Körpers. Diese Reaktion hat sich im Laufe der Evolution
entwickelt, um die Muskeln so hart wie möglich werden zu lassen: Sie verwandeln sich in eine Art Rüstung, und im Falle einer
Verletzung bleibt der Blutverlust gering. Aber zugleich macht uns diese Reaktion hilflos. Grossman rät aus diesem Grund, wir
sollten üben, den Notruf zu wählen, da es häufig vorkommt, dass Menschen in Notfallsituationen nicht
Weitere Kostenlose Bücher