Blink! - die Macht des Moments
dieses andere Arschloch hat sich auf die Fahrerseite gestellt und geschrieen, Russ solle die
Tür öffnen. Aber Russ hat einfach nur dagesessen. Ich weiß nicht, was ihm in diesem Moment durch den Kopf gegangen ist. Jedenfalls
hat er nicht reagiert. Also schlägt dieser Polizist die linke hintere Scheibe ein, gibt einen Schuss ab und trifft Russ durch
die Hand in die Brust. Er will gerufen haben, ›Hände hoch, Hände hoch!‹ und behauptet, Russ habe versucht, eine Pistole zu
ziehen. Wer weiß, ob das stimmt, aber das steht ja auch nicht zur Debatte. Tatsache ist, dass es ein völlig ungerechtfertiger
Einsatz war. Er hätte nicht einmal in der Nähe des Wagens sein dürfen, und das Fenster hätte er auch nicht einschlagen dürfen.«
Hat dieser Polizeibeamte versucht, die Gedanken seines Gegenübers zu lesen? Davon kann keine Rede sein. Wer Gedanken liest,
ist in der Lage, seine Wahrnehmung der Absichten eines anderen Menschen zu korrigieren und seine Handlungen darauf einzustellen. |223| Wenn Martha und Nick in
Wer hat Angst vor Virginia
Woolf?
flirten und George eifersüchtig im Hintergrund herumlungert, springen unsere Blicke zwischen den Augen von Martha, Nick und
George hin und her, denn wir wissen nicht, was George vorhat. Wir sammeln immer neue Informationen über ihn, weil wir es herausfinden
wollen. Aber Ami Klins autistischer Patient sieht erst auf Nicks Mund, dann auf seine Hand und schließlich auf Marthas Brosche.
Sein Gehirn unterscheidet nicht zwischen Menschen und Gegenständen. Er sieht keine Menschen mit ihren Gedanken, Gefühlen und
komplexen Beziehungen. Stattdessen sieht er eine Ansammlung lebloser Gegenstände in einem Raum und konstruiert daraus sein
ganz eigenes System, um sich deren Zusammenspiel zu erklären. Doch dieses System ist derart rigide und reduziert, dass er
laut lacht, als George auf Martha schießt und ein Schirmchen aus dem Gewehr kommt. In gewisser Hinsicht verhielt sich der
Polizist auf dem Dan Ryan Expressway nicht anders. In der extremen Erregung der Verfolgungsjagd hatte er aufgehört, die Gedanken
von Russ zu lesen. Sein Blick verengte sich, er konnte nicht mehr klar denken. Er konstruierte ein rigides System, in dem
klar war, dass ein junger Schwarzer, der vor der Polizei flüchtete, automatisch ein gefährlicher Verbrecher sein musste. Alles,
was gegen diese Annahme sprach und was normalerweise in unser Denken einfließt – zum Beispiel, dass Russ reglos im Auto saß
oder dass die Verfolgungsjagd auch auf der Autobahn nie über 100 Stundenkilometer schnell gewesen war – drangen nicht mehr
zu ihm vor. Erregung macht uns gefühlsblind.
Weißer Raum
Haben Sie je Bilder vom Attentat auf den US-Präsidenten Ronald Reagan gesehen? Es ist der Nachmittag des 30. März 1981. Reagan
hat gerade eine Rede im Hilton in Washington gehalten. |224| Er verlässt das Hotel bei seinem Seitenausgang, wo seine Limousine auf ihn wartet. Er winkt der Menge zu. Stimmen rufen: »Präsident
Reagan! Präsident Reagan!« Plötzlich löst sich ein junger Mann mit dem Namen John Hinckley aus der Menge. Mit einer Pistole
in der Hand rennt er auf Reagan zu und gibt aus allernächster Nähe sechs Schüsse auf die Gruppe um den Präsidenten ab, ehe
er von den Leibwächtern überwältigt wird. Eine der Kugeln trifft Reagans Pressesprecher James Brady in den Kopf. Eine zweite
Kugel trifft den Polizeibeamten Thomas Delahanty in den Rücken. Der Geheimdienstbeamte Timothy McCarthy wird von einem dritten
Schuss in der Brust getroffen. Eine vierte Kugel prallt von der Limousine ab, dringt in Reagans Lunge ein und verfehlt sein
Herz nur knapp.
Das Verwunderliche an diesem Attentat ist, dass es überhaupt geschehen konnte, und dass John Hinckley so dicht an Reagan herankam.
Präsidenten sind von einer großen Zahl von Leibwächtern umgeben, und deren Aufgabe ist es, die Augen offen zu halten und Leute
wie Hinckley schon im Vorfeld zu erkennen. Üblicherweise versammeln sich an kalten Wintertagen wohlgesinnte Bewunderer vor
Seitenausgängen von Hotels, um einen Blick auf den Präsidenten zu erhaschen. Die Aufgabe der Leibwächter ist es, die Person
zu entdecken, die aus dieser Menge herausfällt und dem Präsidenten alles andere als wohlgesinnt ist. Die Aufgabe eines Leibwächters
besteht zum großen Teil darin, Gesichter und Gedanken zu lesen. Warum also konnten sie Hinckleys Gedanken nicht lesen? Die
Antwort ist offensichtlich, wenn Sie sich
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