Blitz bricht aus
Freund hatte in seinem Brief nicht übertrieben, der Hengst war riesengroß, sehr kräftig und kohlrabenschwarz. Die Beine waren lang. Sein Schweif berührte den Boden; er war wie seine Mähne verwirrt, verstrubbelt und voller Disteln und Dornen. Am Hals und am Leib hatte er lange Risse und breite Wunden, die sich—teils vernarbt, teils erst in Heilung begriffen—kreuz und quer über sein schwarzes Fell zogen; es tat einem weh, es anzusehen. Sein Maul war wund und zerrissen. Den schmalen, edlen Kopf hielt er stolz aufgerichtet, und die großen klugen Augen blickten den Jungen unentwegt an.
Wie lange stand der Hengst wohl schon dort? Und aus welchem Grund? Warum hatte er seine Herde nicht gewarnt? Warum sah er ihn regungslos an, ohne im geringsten an Flucht zu denken!
Der Junge krampfte die Hände zusammen; er zitterte am ganzen Körper; seine Augen hafteten wie behext auf dem Pferd. In ihm war etwas wach geworden; eine Stimme aus den Tiefen seines Unterbewußtseins sprach zu ihm, immer und immer wieder dieselben Worte: »Bewege dich nicht! Warte! Warte!« Er wäre gar nicht imstande gewesen, sich zu bewegen; er mußte dem Befehl gehorchen.
Plötzlich trat der Hengst aus dem Schatten der Felswand in das letzte bißchen Licht, das die Schlucht erhellte, näherte sich dem Jungen schnell und blieb erst ganz dicht vor ihm stehen. Wie in Trance streckte McGregor seine Hand nach ihm aus und streichelte das wunde Maul. Dabei kamen Worte über seine Lippen, die er selbst nicht verstand, zärtliche Laute, deren Sinn ihm verborgen war. Aber der große Hengst verstand sie, denn er senkte seinen Kopf, um ihm noch näher zu sein.
McGregor versuchte sich krampfhaft von der schwarzen Wand in seinem Hirn zu befreien, die ihn abhielt, zu begreifen, was vorging. Er zitterte wieder. Was bedeuteten die stammelnden Laute, die dem Aufruhr seines Inneren entsprangen? Er hatte keine Gewalt über das, was er sagte und tat—gerade, daß er wußte, daß er zu diesem Hengst sprach und von ihm verstanden wurde. Er merkte, daß seine Hand Disteln und Zweigstückchen aus der langen Stirnlocke zupfte, und fühlte, daß er das früher oft getan hatte. Er hörte die innere Stimme von neuem denselben Befehl wiederholen: »Warte! Warte!«
Wie lange mußte er noch warten? Wie lange noch, bis er endlich wieder wissen würde, wer er war?
ZWÖLFTES KAPITEL
Der einsame Reiter
Dieses Pferd hatte ihm einmal gehört, soviel wußte er jetzt. Kein ungezähmter Wildhengst würde zu ihm gekommen und vor ihm stehengeblieben sein, das Maul in seine Hand geschoben, gewiehert und ihm zugehört haben. Diese Tatsache war unbestreitbar; die Frage war nur: »Wann hat er mir gehört? Wo? Und wie lange ist es her?«
Er kannte den großen Hengst, seine Augen hatten den keilförmigen Kopf mit den feinen kleinen Ohren früher schon gesehen. Er kannte die dünnwandigen Nüstern und den wundervollen Blick, der auf ihm ruhte, desgleichen den schlanken Hals, das hochgewölbte Genick, den muskulösen Widerrist, die enorme Kraft des Rückens, der Brust, der Schultern, der Beine. Auf alledem hatten seine Augen früher oft geruht, genau wie seine Hände die zärtliche Berührung wiedererkannten. Nur sein Hirn versagte. Die Schatten der die Schlucht von allen Seiten umgebenden Felswände hatten sich schon längst zusammengeschlossen. Der Canyon lag im Dunkeln. Trotzdem verharrte McGregor in seiner Stellung neben dem Hengst, die Hände auf dem rauhen, ungestriegelten Fell, als ob er Angst hätte, ihn wieder zu verlieren, wenn er ihn losließ. Er hatte das dringliche Verlangen, ihn zu bürsten und zu säubern und Glanz in das lackschwarze Fell zu bringen. Denn früher einmal hatte er es gepflegt und war stolz gewesen auf sein seidiges Schimmern—das wußte er genau.
Die Luft wurde jetzt kühl. Ein Wind erhob sich und ließ die schwere Mähne und die Stirnlocke des Hengstes flattern. Kurzes Wiehern ertönte vom andern Ende der Schlucht; der Hengst wendete den Kopf und sah zu seinen Stuten; aber er ging nicht von dem Jungen fort.
Jetzt schallte ein leises Wiehern und Hufstampfen vom Anfang der Schlucht herüber und erinnerte McGregor an sein Pferd, das er dort drüben angebunden hatte.
Der Hengst wendete sich sofort in die Richtung, aus der das Wiehern gekommen war. Er warf den Kopf auf, und seine Augen blitzten. Er wollte gerade davonsprengen, als der Junge mit Worten, die er selbst nicht verstand, beruhigend auf ihn einsprach. Der Hengst stieß seinen
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