Blitz: Die Chroniken von Hara 2
Rolle der besorgten Henne ein, die ihr halb totes Küken begluckt.
Shen rang vier Tage um sein Leben. Am Morgen des fünften Tages erwachte er und bat mit munterer Stimme um etwas zu essen. Um seinen Appetit konnte man ihn nur beneiden. Und da Lahen beteuerte, ihr Schützling kämpfe nicht mehr gegen den Tod, konnten wir endlich weiterziehen.
Fürs Erste wollte ich keine lange Strecke zurücklegen. Nach dem Schüttelfrost hielt ich Shen für schwächer als ein junges Kätzchen. Doch zu meiner großen Verwunderung fühlte er sich prächtig, fast, als hätte sein Leben niemals an einem seidenen Faden gehangen.
Am frühen Nachmittag machten wir am Horizont äußerst seltsame Gebilde aus, deren Einzelheiten wir jedoch erst erkannten, als wir uns ihnen weiter genähert hatten.
Aus dem wogenden Federgras wuchsen graue, grob behauene und im Laufe der Zeit geborstene längliche Steinblöcke heraus. Jemand musste sie eigens an diesen Ort gebracht und aufgestellt haben. Sie berührten einander mit der Spitze. Meist handelte es sich um Gebilde aus drei Steinen, die wie plumpe Dreifüße aussahen, es gab aber auch Gruppen mit fünf oder sogar acht Blöcken.
Die Steine selbst erinnerten am ehesten an ein Gitter oder einen Käse, so groß war die Zahl der Löcher in ihnen. Sie waren dreieinhalb Yard hoch und erweiterten sich an der Spitze zu einer Plattform mit einer Art Brüstung. Zwischen den einzelnen Gruppen lag ein Abstand von hundert bis vierhundert Schritt.
Als wir an den finsteren, von den Jahrhunderten angefressenen Riesen vorbeigingen, hörten wir, wie der Wind, der nach Wermut und wildem Honig roch, durch die Löcher pfiff: Über der endlosen Steppe schwoll ein vielstimmiges Lied Tausender Schilfflöten an.
Keine Ahnung, warum, aber mich beschlich der Eindruck, über einen Friedhof zu wandern.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, flüsterte Lahen. »Du?«
»Ich schon«, hauchte ich. »Zwischen dem Sandoner Wald und den Ausläufern der Buchsbaumberge. Aber da waren es nicht so viele. Wir könnten mal auf einen raufsteigen.«
»Wozu?«
»Das haben die Männer und ich damals gemacht, um einen Angriff der Hochwohlgeborenen abzuwehren. Wozu sie eigentlich dienen, ist mir allerdings schleierhaft.«
»Haben die Steine damals in den Bergen auch gesungen?«
»Ja. Wahrscheinlich werden sie gerade deswegen an windigen Stellen aufgestellt.«
»Das stimmt. Und deshalb werden sie auch die Steine des Windes oder Alistans Flöten genannt«, mischte sich nun Shen ein. »Es gibt sie in geringer Zahl in den Bluttälern, im Sandoner Wald und auf den Pässen der Katuger Berge, aber sehr häufig auf der Treppe des Gehenkten, in Bragun-San und im Nordland.«
»Wer war dieser Alistan, nach dem sie benannt sind?«
»Keine Ahnung, darüber steht nichts in den Büchern«, antwortete Shen. »Diese Steine sind so alt wie unsere Welt. Niemand erinnert sich mehr daran, wer sie geschaffen hat und zu welchem Zweck. Angeblich sollen diese Flöten den Skulptor auf die Idee für die Wegblüten gebracht haben. Im Turm gehen Gerüchte, wonach sich in der Magie in den Wegblüten und in diesen Steinen etwas Gemeinsames findet. Was genau, das weiß aber auch da niemand. Die ersten Menschen im Imperium haben sich oft in der Nähe der Steine des Windes angesiedelt. Sie haben dort ihre Häuser gebaut, das Land urbar gemacht und ihre Kinder großgezogen. Früher sollen die Flöten diejenigen, die sie verehrten, auch gewarnt haben, wenn Feinde nahten.«
»Und heute?«, fragte Lahen.
»Heute sind es wohl bloß noch einfache Steine, durch die der Wind pfeift. Die Geschichte der Flöten ist zusammen mit ihren Schöpfern ins Reich der Tiefe eingegangen. Wir werden sie vermutlich nie mehr erfahren.«
»Der Skulptor verwandelt sich allmählich auch in eine Legende«, bemerkte Lahen. »Trotzdem steckt in jedem Mythos noch ein Korn Wahrheit.«
»Das ja. Nur sind wir nach all den Jahren nicht mehr imstande, dieses Körnchen zu erkennen. Zu viel Zeit ist inzwischen vergangen, allzu viel ist in Vergessenheit geraten.«
»Stimmt. Und wenn jemand viel vergessen hat, dann der Turm.«
Shen widersprach nur deshalb nicht, weil er sich gerade umgedreht und etwas entdeckt hatte. »Oh!«, rief er.
Über die Steppe kamen Reiter heran. Auch sie hatten uns bemerkt.
Und der Abstand zwischen uns schmolz schnell dahin.
Ich brauchte nur wenige Sekunden, um zu begreifen, dass dies keine willkommenen Gäste waren.
»Nabatorer! Mir nach, rasch!«, brüllte ich und
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