Blitz: Die Chroniken von Hara 2
Boden. Die Kreaturen stürzten sich auf unsere noch lebenden Feinde. Panik brach aus.
Diese Biester wussten für sich zu sorgen: Das erste der Wesen verbiss sich in einem Pferdehals, zog die Beine an und ließ sich von dem Tier forttragen. Das zweite sprang aus vollem Lauf auf ein Pferd, umfasste den Reiter und grub ihm die Zähne in die Schulter. Das dritte riss mit ekelhaftem Schmatzen das Fleisch brockenweise aus einem noch lebenden Nabatorer. Nun flohen auch alle, die bisher überlebt hatten. Sogleich setzte ihnen dieses untote Trio nach.
Lahen saß gegen die Brüstung gelehnt da. Aus den Winkeln ihrer geschlossenen Augen rannen ihr je zwei blutige Tränen über die Wangen.
»Das war’s! Jetzt bin ich völlig leer!«,
teilte sie mir mit, ehe sie sich erbrach. Ich stürzte zu ihr hin, doch sie stieß mich weg: »Hilf Shen! Mit mir … ist alles in Ordnung. Das geht vorbei. Ich verspreche es dir.«
Ich glaubte ihr und kümmerte mich um Shen. Er blutete nach wie vor. Allerdings hätte er bereits wesentlich mehr Blut verloren, wenn der Bolzen nur einen halben Finger tiefer eingedrungen wäre. In dem Fall würde der Junge längst den Gesang der Diener Meloths in den Glücklichen Gärten vernehmen. Aber so … Noch lebte er. Doch weder Lahen noch ich waren in der Lage, ihn zu heilen. Ich wusste, dass ihm höchstens noch eine halbe Stunde blieb. Auch er schien das zu ahnen.
»Ich krieg … kaum Luft. Die Lunge ist getroffen«, presste Shen heraus. »Das sieht nicht … gut aus.«
»Mich erstaunt eher, dass du noch bei Bewusstsein bist, mein Junge«, sagte ich in möglichst beiläufigem Ton, um ihn ja nicht ahnen zu lassen, dass es nicht nur nicht gut aussah – sondern dass es schlimmer gar nicht sein könnte. »Ich an deiner Stelle wäre längst in Ohnmacht gefallen.«
»Ich bin … gerade dabei«, sagte er und spuckte aus: Es war Blut.
»Wag es ja nicht, das Bewusstsein zu verlieren, du Hundesohn!«, herrschte ihn Lahen an, die völlig zerzaust war und sich kaum auf den Beinen halten konnte. »Sieh mich an! Wenn du in Ohnmacht fällst, schicke ich dich höchstpersönlich in die Glücklichen Gärten. Hör mir zu! Tritt mit deinem Funken in Verbindung!«
»Das kann ich nicht«, hauchte Shen. »Dieser Schmerz …«
Lahen tobte, wie ich es nie zuvor bei ihr erlebt hatte, und verpasste Shen eine schallende Ohrfeige. »Doch, das kannst du! Du kannst alles, du Bastard! Komm schon! Streng dich an! Werd wütend, du Hund! Werd wütend, bevor ich dich zu Tode prügle! Vergiss den Schmerz! Er existiert nicht! Hörst du mich?! Deine Gabe hängt nicht von einer Nichtigkeit wie Schmerz ab! Du bist ein Heiler! Du kannst sogar dem Tod ein Schnippchen schlagen! Was spielst du dich da bei einem kleinen Kratzer so auf?! Spür deinen Funken! Nimm die Wärme wahr! Richte sie auf dich, so wie du sie auch schon auf Ness und mich gerichtet hast! Begreifst du, was ich verlange?!«
Von ihrem Ausbruch völlig betäubt, nickte Shen. Daraufhin fuhr Lahen zufrieden fort: »Ich hole jetzt diesen Bolzen heraus. Das wird wehtun. Aber du achtest nicht eine Sekunde lang auf den Schmerz, sonst stirbst du. Danach rufst du sofort deine Gabe an. Du hast die Wahl zwischen dem Tod und deinem Funken, mein Junge. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.«
»Lahen! Wenn du den Bolzen rausholst, reißt du die Lunge noch weiter auf. Dann tötet ihn die Blutung in weniger als zwei Minuten«, stellte ich unnötigerweise klar, bevor ich Shen einen Lederriemen zwischen die Zähne schob.
»Bist du bereit?«, fragte Lahen und umfasste das Ende des aus der Brust ragenden Bolzens.
Er nickte abermals und schloss die Augen.
»Auf drei. Ness! Halt ihn fest! Eins … zwei … drei!«
Als sie den Bolzen mit aller Kraft herauszog, drehte sie dabei ihre Hand ein klein wenig. An der schartigen Spitze war ein winziges Stück Fleisch hängen geblieben. Prompt spritzte Blut drei Zoll hoch in die Luft. Shen stieß einen Laut aus, der wie sein letzter klang, bäumte sich auf, trampelte mit den Füßen auf die Erde ein, verlor aber nicht das Bewusstsein.
Im nächsten Moment umspielte seine Arme von den Fingerspitzen bis zu den Ellbogen sonniges Licht – das gleich darauf erlosch.
»Noch mal«, flehte Lahen. »Los! Du schaffst das!«
Diesmal leuchteten nur die Hände, und das Licht war fahl, kaum zu erkennen. Shen legte sie auf die Wunde.
Zunächst geschah gar nichts. Das Blut sprudelte weiter fröhlich zwischen seinen schlanken Fingern hindurch. Doch als
Weitere Kostenlose Bücher