Blitz: Die Chroniken von Hara 2
vor dem Anwesen stehen, voller Furcht, die Geister der Vergangenheit heraufzubeschwören. Voller Furcht, das leise, sorglose, das geliebte Lachen Rethars zu hören.
Es kostete sie all ihre Kraft, diese Ängste zu vertreiben. Schließlich öffnete sie entschlossen die Pforte, die mit markerschütterndem Gejaule aufging, trat in den Garten ein, rieb sich den Rost von der Hand – und erstarrte.
Hier war erst vor Kurzem jemand entlanggegangen. Das Gras war noch immer niedergetrampelt. Dennoch gab es jetzt kein Zurück mehr. Sollte sich tatsächlich jemand im Haus aufhalten, so hätte er das Quietschen der alten Pforte längst gehört.
Sie rief jenen Teil des Funkens an, der ihr noch zur Verfügung stand, und ging, aufmerksam durch die Bäume spähend, auf das Haus zu. An einer dicken Eichenwurzel, die mit feuchtem Gras bewachsen war, bemerkte sie einen Stiefelabdruck. Schon im nächsten Moment nahm sie Mandelgeruch wahr.
Grinsend hielt sie weiter auf die Tür zu.
Sämtliche Schlösser und magischen Siegel hatte Rethar bereits damals entfernt. Mittlerweile hing die Tür schicksalsergeben in den verrosteten Angeln und drohte jederzeit herauszufallen. »Ich weiß, dass ihr da drin seid«, rief Thia. »Und dass ihr mich hört. Deshalb solltet ihr besser auf jede Dummheit verzichten und euch erst einmal in Ruhe mit mir unterhalten.«
Sie wartete ein paar Sekunden und trat dann, immer noch in Kontakt mit ihrem Funken, ins Haus ein.
Dort hatte man inzwischen alles für ihren Empfang vorbereitet. Zwei Shej-sa’nen schwebten ein Yard über dem Boden in der Luft und zielten mit Bögen auf sie, der dritte im Bunde landete gerade hinter ihr, um ihr seine magere, trügerisch schwache Hand über den Mund zu legen. »Ein Ton, und du bist ein toter Mann«, raunte die Kreatur der in Porks Körper steckenden Thia ins Ohr. »Verstanden?«
Obwohl Thia selbst jetzt noch alle drei mühelos hätte töten können, nickte sie bloß.
»Vorwärts«, zischte die Ascheseele hinter ihr.
Von den Shej-sa’nen eskortiert ging sie in den nächsten Raum.
Bei ihren Bewachern handelte es sich um Nijisu, die besten Krieger unter den Ascheseelen. Blutrünstige und unübertroffene Bogenschützen. Die gefährlichsten aller Shej-sa’nen.
»Was willst du?«, fragte die Kreatur hinter ihr.
»Ich rede nur mit eurem Befehlshaber. Ruft ihn!«
»Außer uns ist hier niemand. Sprich, oder du stirbst!«
»Ihr hinterlasst keine Stiefelabdrücke im Boden. Also lügt mich nicht an!«
»Soll ich den Kerl umbringen?«, fragte einer der drei in der Sprache der Shej-sa’nen.
»Ich schicke dich ins Reich der Tiefe, noch ehe du die Sehne losgelassen hast, du Hundesohn«, drohte Thia in der Kampfsprache der Nijisu, worauf sich zunächst Erstaunen in die Augen der Shej-sa’nen schlich, dann Unsicherheit.
»Woher kennst du unsere Sprache?«
»Du hast mich wohl nicht verstanden, Shej-sa’n!«, fuhr Thia in der Nijisu-Sprache fort. »Ich rede nur mit eurem Befehlshaber. Bring mich zu ihm, solange ich euch noch wohlgesonnen bin.«
»Gut, Mann. Aber wenn du ein Spiel mit uns spielst, töte ich dich.«
Daraufhin flog er zur Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Thia folgte ihm. Eine der Ascheseelen blieb an der Tür als Posten zurück, die andere behielt Thia im Auge.
Sie kamen in den einstigen Ballsaal, in dem sich nun drei Dutzend Nijisu eingerichtet hatten. Ihre Ankunft löste unter den Anwesenden ein kaum hörbares Flüstern aus. Thia stieg der Geruch von Blut und Tod in die Nase.
Am anderen Ende des Saals gelangten sie durch eine Tür rechter Hand in einen halbrunden, großen, aber sehr schlecht beleuchteten Raum. Hinter einem Tisch saßen ein Mann und eine Frau. Thia begriff sofort, wen sie vor sich hatte, auch wenn die beiden keine weißen Umhänge trugen. Immerhin hielten sie jeweils einen Hilss in Händen. Der Stab der Frau wies sie als Angehörige des Vierten Kreises aus, während der Mann dem Hilss zufolge dem Achten Kreis angehörte.
An der gegenüberliegenden Wand standen sechs Untote, in der Mitte des Zimmers baumelte an einem Haken in der Decke ein Mann. Er war tot, seine Haut abgezogen, die Schenkel bis auf die Knochen abgenagt. Unter ihm hatte sich auf dem Boden bereits ein ganzer See aus Blut gebildet.
Die Shej-sa’nen gierten stets nach Menschenfleisch. Wenn die Nekromanten ihnen diesen Wunsch erfüllten, brachte das gleich zwei Vorteile mit sich: satte Krieger und die Haut eines Toten, die zur Verstärkung einiger Zauber
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