Blitze des Bösen
ganz trocken. Das
Licht auf der Empore wurde abgeblendet, fast so wie im
Theater, und eine Tür links vom Stuhl öffnete sich. Einen
Moment darauf erschien Richard Kraven in der Türöffnung. Er
hielt inne und schaute auf den Stuhl.
Anne beobachtete ihn genau, und ihr schien es, als ob ein
Lächeln um seine Lippen huschte. Begleitet von zwei Wachen
ging Kraven in den Raum und nahm auf dem Stuhl Platz. Er
war barfuß, trug nur eine lockere Hose und ein kurzärmliges
Hemd. Obwohl Anne diesen kaltblütigen Mörder verabscheute,
erschien ihr diese Kleidung ungehörig. Ihr kam es vor, als ob
man an ihm nicht nur die Todesstrafe vollstrecken wollte,
sondern ihm auch noch den letzten Rest an Würde nehmen
wollte.
Die Wachen schnallten Kraven auf dem Holzstuhl fest. Dann
betrat ein Priester den Raum und sprach mit ihm. Aber wegen
der dicken Glasscheibe, die den Hinrichtungsraum von der
Besucherempore trennte, konnte man nichts verstehen. Was
immer der Geistliche auch sagte – es schien auf Kraven nicht
den geringsten Eindruck zu machen, und er antwortete ihm
auch nicht. Nach kurzem Zögern verließ der Priester den
Raum.
Anschließend befeuchteten die Wachen eine der beiden
Elektroden mit Salzwasser und befestigten sie an Kravens
kahlgeschorenem Kopf. Die andere befestigten sie an der Wade
seines rechten Beines. Nachdem sie sich noch einmal alles
angeschaut hatten, verließen sie den Raum.
Dann herrschte eine unheimliche Stille auf der Empore.
Anne sah auf die Uhr: Es waren noch dreißig Sekunden bis
zwölf.
Ganz automatisch schaute sie sich nach einem Telefon um.
Sie bemerkte, daß sie selbst unbewußt darauf wartete, daß
plötzlich ein Klingeln ertönte, mit dem das Schauspiel vor ihr
im letzten Moment beendet sein würde. In Filmen kam das ja
oft vor…
Aber hier gab es kein Telefon. Sie fragte sich, ob Richard
Kraven auch auf ein Klingeln, auf eine Begnadigung in letzter
Sekunde, wartete.
Sie schaute Kraven wieder an. Obwohl man ihr gesagt hatte,
daß die Scheibe nur von einer Seite aus durchsichtig war und er
von sich aus die Zuschauer nicht erkennen konnte, hatte sie den
Eindruck, daß seine Augen auf ihr ruhten, daß er genau wußte,
wo sie saß.
Diese ausdruckslosen, kalten Augen hatten ihre Gleichgültigkeit verloren. In den letzten Momenten seines Lebens
hatten sie sich verändert und zeigten ein Gefühl.
Ein starkes, tiefes Gefühl.
Es war Haß!
Anne konnte spüren, wie der Haß in ihm brannte, wie er
durch die dicke Scheibe drang und langsam zu ihr kam.
Sie schrak vor Kravens haßerfülltem Antlitz zurück wie vor
einer angreifenden Kobra. Sie mußte hart gegen den Wunsch
ankämpfen, ihren Stuhl zu verlassen, um vor dem, was sich vor
ihren Augen abspielte, zu fliehen. Doch da durchlief Richard
Kraven ein Zucken, das jeden Muskel, jeden Nerv seines
Körpers erfaßte, ausgelöst von den 2000 Volt, die durch ihn
gejagt wurden.
Anne keuchte. Ihr ganzer Körper reagierte auf das Schreckliche, das sie sah. Sie hörte auf zu atmen, und alles in ihr verhärtete sich. Aus ihrer Kehle drang ein gequältes Stöhnen, als
sich Kravens Körper wieder und wieder aufbäumte.
Neben Anne sah Mark Blakemoor mit geöffnetem Mund zu,
wie Kraven starb. All seine Muskeln waren angespannt, der
Polizist zählte still die Sekunden, und erst als zwei Minuten
vorüber waren und Richard Kraven mit Sicherheit tot war, ließ
seine Spannung nach. Dann sagte er leise zu Anne Jeffers:
»Das war’s, lassen Sie uns heimgehen.«
Anne rutschte auf ihrem Sitz hin und her, machte aber keine
Anstalten aufzustehen. Auch als der Raum sich allmählich
leerte, blieb sie sitzen, betrachtete in Ruhe, wie die Wachen in
den Hinrichtungsraum zurückkamen, diesmal mit einer Bahre
und von einem Arzt begleitet. Nachdem dieser Kravens Tod
bestätigt hatte, entfernten die Wachen die Elektroden und die
Riemen und legten die Leiche auf die Bahre.
Aber selbst als sie fortgeschafft worden war, blieb Anne
noch auf ihrem Platz sitzen. Sie wußte, daß das, was sie gerade
gesehen hatte, sie verändern würde.
Sie wußte auch, daß sie dieses Erlebnis nie vergessen würde,
und auch nicht das schreckliche Gefühl, das sie gespürt hatte,
als sich Kravens letzter, von tiefem Haß erfüllter Blick auf sie
geheftet hatte.
Dann dachte sie an Glen, und war sofort von Sehnsucht nach
ihm erfüllt. Sie wollte bei ihm sein, seine Umarmung, seine
Lippen auf den ihren spüren.
Dann würde sie wieder aufleben. In nur wenigen
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