Blitze des Bösen
Rollbahre näherte, war Anne, wie immer, über
die Anonymität der Plastikhülle, der die Leiche vor den Augen
der Schaulustigen verbarg, befremdet. Zwar verhüllte er die
Verwundungen des Opfers vor der Öffentlichkeit, reizte aber
auch gleichzeitig deren Neugier, denn jeder fragte sich
unwillkürlich, was sich wohl darunter verbarg. Obwohl Anne
wußte, daß die modernen Plastikhüllen ihren Zweck sehr gut
erfüllten, mußte sie in solchen Momenten immer an die Decken
denken, die früher verwendet wurden und menschlicher
gewirkt hatten. Auch nach einem Jahrzehnt konnte sie sich
immer noch nicht daran gewöhnen. Aber sie mußte ihren Job
erledigen und konnte sich mit solchen Gedanken nicht länger
aufhalten.
»Kann ich einen kurzen Blick auf sie werfen?« fragte Anne
die Kommissarin, die ziemlich lässig gekleidet war.
Lois Ackerly schüttelte den Kopf. »Wer dort erst mal drin
ist, bleibt es, bis der Gerichtsmediziner ihn herausholt.« Als
Anne zum Treppenhaus gehen wollte, schnitt Ackerly ihr mit
den Worten den Weg ab: »Der Tatort darf nach wie vor nicht
betreten werden.«
»Sie dürfen mir nicht verübeln, daß ich es wenigstens versucht habe«, sagte Anne und grinste, und die Polizistin lächelte
zurück.
»Und Sie dürfen mir nicht verübeln, daß ich Sie daran
gehindert habe. Sie kennen doch die Regeln, Anne.«
Anne warf nur noch einen sehnsüchtigen Blick zum zweiten
Stock hoch. In den vier Jahren, die sie Lois Ackerly kannte –
vom ersten Tag an war sie für den Fall Kraven abkommandiert
gewesen –, hatte sich die Polizistin immer streng an die
Gesetze gehalten. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, Anne
oder sonst jemandem, der nicht bei der Polizei war, zu
gestatten, einen Tatort zu betreten. »Aber ein paar Fragen
könnten Sie mir doch beantworten«, Anne ließ nicht locker.
Ackerly schüttelte wieder den Kopf und sagte: »Keine Zeit.«
Sie kehrte ihr den Rücken zu und ging die Treppen hinauf.
Anne überlegte sich kurz, ob sie nicht hören sollte, was die
Polizisten auf der Treppe redeten, doch dann hörte sie den
Motor des Wagens, der Shawnelle Davis ins Leichenschauhaus
fahren sollte. Sie fragte sich, ob sie ihm nicht hinterherfahren
und sich in den Autopsiesaal stehlen sollte. Aber dann hörte sie
plötzlich über sich eine vertraute Stimme.
»Sie sollten nicht einen Gedanken daran verschwenden,
Reporter dürfen nun mal bei der gerichtsmedizinischen
Untersuchung nicht anwesend sein.«
Sie fühlte sich ertappt, schaute sich um und entdeckte über
sich das grinsende Gesicht Mark Blakemoors. Er stand auf
einem langen Balkon, der von allen Wohnungen im zweiten
Stock aus zugänglich war. »Wie ich sehe, hat man also
tatsächlich die Bestbesetzung aufgeboten«, bemerkte sie
trocken.
»Hat Ihre Zeitung Sie benachrichtigt, oder hat wieder mal Ihr
eigener Riecher sie hierhergeführt?«
»Die Zeitung rief mich an«, bestätigte Anne. »Und? Wie
sieht’s aus? Ich nehme an, es besteht kein Zusammenhang mit
den Kraven-Morden.«
»Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee?« entgegnete Blakemoor. »Wir sind hier gleich fertig, und den Jungs vom Labor
kann Ackerly auch allein über die Schultern schauen. Sie wollen doch sicher versuchen, etwas aus mir herauszuquetschen?«
»Sie sind mir einer. Also gut, aber nur, wenn jeder für sich
bezahlt. Die Presse ist unbestechlich.«
Blakemoor machte ein gespielt mürrisches Gesicht: »Und so
etwas mir… Wo sich doch Polizisten sowieso kaum etwas
leisten können.«
Fünf Minuten später gingen sie durch die Hintertür ins
Charlie’s. Unbeachtet von den drei Gästen, die hier schon vor
zehn Uhr morgens Drinks in sich hineinschütteten, suchten sie
sich einen Tisch nahe der Fenster, von denen man auf den
Broadway hinaussehen konnte. »Ich mag diesen Platz«, meinte
Anne und schaute sich die viktorianische Möblierung und die
Kollektion an Postern und Bildern an. Das Restaurant war in
einem Stil eingerichtet, der vor zwanzig Jahren modern
gewesen war.
Während beide auf die bestellten Milchkaffees warteten,
fischte Anne ihren Kassettenrecorder aus der Tasche. »Nichts
da«, wehrte Blakemoor ab. »Sie können mich zwar
aushorchen, aber meine Stimme kommt nicht aufs Band. Keine
Interviews, bevor wir nicht mehr wissen als zum jetzigen
Zeitpunkt, okay?«
Anne ließ den Recorder wieder in ihre Tasche sinken. »Sie
kennen mich – ich nehme eben jede Chance wahr. Also, was
war los? Es geht das Gerücht, man habe die
Weitere Kostenlose Bücher