Blitze des Bösen
hinauslaufen, daß sie statt dessen alle
zusammen Essen gingen. Als Heather zum Telefonieren nach
unten lief, ging Anne zum Schlafzimmer und blieb zögernd vor
der Tür stehen.
Was erwartete sie?
Es war doch bloß Glen!
Auf einmal kam sie sich reichlich dumm vor, öffnete die Tür
und ging hinein. Die Rollos waren heruntergelassen, und die
Luft war stickig. Als sie die Nachttischlampe anknipste, wurde
Glen sofort wach, setzte sich auf und schützte sich mit der
Hand vor dem Licht. Für eine Sekunde – einen kurzen
Augenblick – hatte Anne das unbestimmte Gefühl, in die
Augen eines Fremden zu schauen. Doch dann klärte sich sein
Blick, und er lächelte sie an – mit demselben Lächeln, das ihr
seit Jahren vertraut war und das ihr immer das Gefühl vermittelt hatte, daß in ihrer Welt alles intakt war.
»Hallo!« begrüßte er sie. »Komm her und nimm mich in den
Arm.«
Anne setzte sich auf den Bettrand, schlang ihre Arme um
ihn, gab ihm einen Kuß und legte ihre Wange an seine Brust.
»Du wirst nie erraten, wer mich heute im Büro angerufen hat«,
sagte sie, auf einmal völlig sicher, daß Joyces verrückte
Geschichte lediglich eine Ausgeburt ihrer Phantasie war.
»Joyce Cottrell.«
»Joyce. Das meinst du doch nicht im Ernst. Was hat sie
gewollt?«
Als Anne von der Unterhaltung mit ihrer Nachbarin erzählte,
spürte sie, wie Glen sich verkrampfte. Alle Befürchtungen, die
ihr sein Lächeln zuvor genommen hatte, stellten sich
schlagartig wieder ein. Weder ihre Stimme noch ihre Mimik
verrieten aber, was wirklich in ihrem Kopf herumspukte.
»Klingt verrückt, was?«
»Vielleicht haben wir schon immer recht gehabt«, deutete
Glen an, doch sein neckischer Ton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er mit seiner Antwort eine Spur zu lange
gezögert hatte. »Wahrscheinlich hat sie tatsächlich all die Jahre
getrunken.«
Anne stand auf, sah Glen in die Augen und forschte nun
ganz unverhohlen nach dem Ausdruck, den sie vor einigen
Minuten darin gesehen zu haben glaubte. »Dann ist also nichts
passiert?«
»Wie denn?« Nach einer kurzen Umarmung, die Anne wie
ein Ausweichen vorkam, stand er auf und ging ins Badezimmer.
Glens Gedanken überschlugen sich, als er sich auszudenken
versuchte, was er auf Annes Frage antworten sollte. Er wollte
sie nicht belügen, aber auch nicht beunruhigen. Falls er
tatsächlich splitternackt über den Hinterhof gelaufen war,
müßte er das doch wissen. Oder nicht…?
Doch das letzte, an das er sich erinnerte, war, daß er morgens
im Badezimmer gewesen war, geduscht hatte, sich rasieren
wollte und dann…
Das schwarze Loch an diesem Tag, in das er so völlig
unvorbereitet gefallen war… Und danach war er bewußtlos
geworden.
In ihm drehte sich alles. Wie kam er überhaupt dazu, Anne
anzulügen? Warum sagte er nicht einfach, daß er sich an einen
Teil des Tages nicht mehr erinnern konnte?
Die Antwort darauf fiel ihm im gleichen Moment ein: Weil
sie darauf bestehen würde, daß er wieder ins Krankenhaus
ginge, trotz allem, was Gordy Farber ihm gesagt hatte. Außerdem war ja überhaupt nichts passiert.
Oder doch? Was, wenn er wirklich hinausgegangen wäre
und Joyce Cottrell ihn gesehen hatte? Warum um alles in der
Welt hätte er so etwas tun sollen? Er hatte doch auf dem Badezimmerboden gelegen!
Er stellte fest, daß sein Rasierapparat noch immer im
Waschbecken lag, wo er ihn morgens zurückgelassen hatte.
Doch dann wurde ihm schlagartig bewußt, daß dies gar nicht
sein Rasierer war – seiner war fünf Jahre alt und hatte
Schrammen am Plastikgehäuse.
Der, den er jetzt anstarrte, war dagegen brandneu!
Wo konnte der her sein?
War er im Schlaf umhergewandelt? Sollte er tatsächlich
ausgegangen sein und sich einen neuen Rasierer gekauft
haben? Aber ganz bestimmt war er doch nicht nackt einkaufen
gegangen! Man hätte ihn sofort ins Gefängnis gesteckt! Also
mußte er sich angezogen haben und ausgegangen sein, um sich
einen neuen Rasierapparat zu kaufen. Aber das war völliger
Unsinn! Er war nackt gewesen, als er aufgewacht war!
Blankes Entsetzen überkam ihn. Er verlor seinen Verstand!
Vielleicht sollte er Farber noch einmal anrufen. Aber ihm fehlte doch nichts, das hatte ihm zumindest der Arzt erklärt!
»Glen?«
Anne stand an der Tür. Er fühlte, daß sie ihn beobachtete,
und der Spiegel reflektierte ihren sorgenvollen Blick. Er riß
sich zusammen, nahm den funkelnagelneuen Rasierapparat und
drehte sich um.
»Ich wette, Joyce hat schon
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