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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Porzellanprodukten, die mit Szenen aus Nawais Gedichten bemalt waren (ein Künstler der Kaiserlichen Russischen Porzellanmanufaktur, Michail Moch, fertigte eine Schüssel im Stil einer Mogulminiatur an), Alexander Boldyrew hielt einen Vortrag, und sein Kollege Nikolai Lebedew, so schwach, dass er sitzen bleiben musste, las aus seiner neuen Nawai-Übersetzung. Im Publikum saß auch Boldyrews alte Mutter, die darauf bestand, ein kleines Stück Brot mit Schweinefett zur offiziellen Mahlzeit beizusteuern. Es spielte keine Rolle, erzählte einer der Teilnehmer, dass kein einziger Usbeke anwesend war, denn das Ereignis diente als »Herausforderung an den Feind. Licht kämpfte gegen Finsternis.« 25 Der stets realistische Boldyrew hielt den Auftritt seines alten Freundes Lebedew für »schlecht und desorganisiert«, die Übersetzung selbst jedoch für »wunderbar! In der glänzenden, klaren Sprache von Puschkins Märchen«. Auch sein eigener Vortrag sei der Mühe wert gewesen: »In der Arbeit sind in unseren Tagen das einzige Glück und die einzige Befriedigung zu finden. Je schlimmer die physische Situation ist – jedenfalls bis zu einem gewissen Grade –, desto klarer und frischer agiert unser Geist.« 26
    Zwei Monate später erfuhr Boldyrew von Lebedews Tod durch Hunger und Ruhr. Er hatte seinen Freund zum letzten Mal zwei Wochen vorher, im Keller der Eremitage, gesehen:
    Seine Frau und er lagen in kalter, völliger Dunkelheit in der unterirdischen Hölle des Kellers (Schutzraum Nr. 3). Er erkannte mich an meiner Stimme und griff nach mir wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm. Sie gaben mir 250 Rubel und flehten mich an, auf dem Markt für sie Brot und Kerzen zu kaufen … Seine letzten Worte an mich lauteten: »Wie ich leben möchte, Sandrik, wie ich leben möchte!« Er sprach mit seiner erstaunlichen, melodischen Stimme, mit der er seine herrlichen, musikalischen Übersetzungen so unvergleichlich vortrug … Zu jenem Zeitpunkt war ich selbst zu niedergedrückt, um wirkliche Hilfe zu leisten, und ich konnte ihm nichts kaufen. Besser gesagt, Galja, die gelegentlich auf den Markt ging, schaffte es nicht, weil ihr die Kraft fehlte. Außerdem wurde Brot ohnehin nicht für Geld verkauft. 27
    Ebenfalls als Manifestation des trotzigen Leningrader Geistes wird die Tatsache gefeiert, dass Dutzende der Theater und Konzertsäle geöffnet blieben. Das Theater für Musikalische Komödien bot fast den ganzen Winter hindurch ein Programm an, und unter den kristalllosen Kronleuchtern der Philharmonie wurden bis in den Dezember hinein Konzerte abgehalten. (Von den Streichern konnten, wie ein Zuschauer bemerkte, nur die Kontrabassisten Schaffellmäntel tragen, die übrigen mussten sich mit gefütterten Baumwolljacken begnügen, in denen sie die Arme ungehindert bewegen konnten.) Insgesamt sollen die Leningrader im Lauf der Blockade über 25000 öffentliche Vorführungen verschiedener Art besucht haben, und das Bild von Künstlern, die sich der Kriegsarbeit widmeten – Schostakowitsch auf dem Dach des Konservatoriums, Achmatowa vor dem Scheremetjew-Palast Wache stehend, Primaballerinen, die Tarnnetze nähten –, ist eines der wichtigsten Motive der Belagerung.
    Nicht alle Leningrader reagierten ohne Zynismus. Wie ein Tagebuchschreiber über ein Konzert des großen Geigers David Oistrach anmerkt (er wurde zu diesem Anlass aus Moskau eingeflogen), habe das Publikum nicht aus den üblichen Vertretern der Intelligenzija bestanden und ungewöhnlich gesund gewirkt. Seine Frau und er hätten bei Weitem »dystrophischer« ausgesehen als alle anderen Anwesenden. 28 Sogar ein inbrünstiger Stalinist wurde beim Anblick der Menschenscharen, die sich im März 1942 nach Karten für eine Operette ( H.M.S. Pinafore ) drängten, an Brot und Spiele erinnert. 29 Einer der bittersten Einträge in einem Belagerungstagebuch stammt von Vera Kostrowizkaja, der Tanzlehrerin in der Mariinski-Ballettschule:
    Da es im April notwendig wurde, die Wiedergeburt der Stadt durch Halbtote darstellen zu lassen, hatte L.S.T. [die Schuldirektorin] den müßigen Einfall, dass unsere Schule – oder, genauer gesagt, was von ihr übrig war – [im Frühjahr] die erste öffentliche Vorstellung in der Philharmonie geben solle.
    Einige der Mädchen waren dank glücklicher häuslicher Umstände noch relativ gesund, aber alle litten an Skorbut. Die begabteste, Ljusja Alexejewa, konnte die Klassiker nicht tanzen – ihre Beine, mit blauen Flecken bedeckt, wollten ihr nicht

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