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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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wurde Anfang Juli in Leningrad verzeichnet. Hunderte von einfachen Leuten wurden verhaftet, weil sie sich über ihre Arbeitszeit beschwert, eine schlechte Ernte vorhergesagt oder Nachrichten über die Bombenabwürfe auf Kiew und Smolensk weitergegeben hatten. 16
    Einer der originellsten Leningrader, die damals verschwanden, war der Autor Daniil Juwatschow, besser bekannt unter seinem Pseudonym Daniil Charms. Als Relikt aus den avantgardistischen zwanziger Jahren pflegte er eine Reihe von Exzentritäten, beschäftigte sich mit dem Okkulten, trank nichts als Milch und stolzierte durch die Umgebung seiner Wohnung in der Majakowski-Straße mit einem Deerstalker-Hut, einer Shooting-Jacke, Knickerbockern, einer untertassengroßen Taschenuhr und karierten Socken. Die Überbleibsel seiner Prosa und seiner Dialoge – unveröffentlicht bis in die späten neunziger Jahre – fangen die Eintönigkeit und die wüste bürokratische Gewalt seiner Epoche mit albtraumhaftem Humor ein. In einer Skizze träumt jemand immer wieder von einem Polizisten, der sich in den Büschen versteckt und dabei immer dünner wird, bis ein Sanitätsinspektor ihn zusammenfalten und mit dem Abfall wegwerfen lässt. In einem anderen Text lehnen sich neugierige alte Frauen aus einem Fenster und purzeln eine nach der anderen auf den Boden. In einem dritten streiten sich Freunde darüber, ob die Zahl sieben vor der Zahl acht komme, bis sie von einem Kind abgelenkt werden, das »glücklicherweise« von einer Parkbank fällt und sich den Kiefer bricht. Charms wurde im August verhaftet und in eine psychiatrische Anstalt gesteckt, wo er zwei Monate später aus unbekannten Gründen starb. Warum wurde er ausgewählt? »Vielleicht«, wie der Belagerungshistoriker Harrison Salisbury schreibt, nur »deshalb, weil er einen komischen Hut trug«.
    Die Freiwilligkeit der ersten Kriegstage wurde rasch von Zwang abgelöst. Am Freitag, dem 27. Juni, gab der Leningrader Stadtsowjet – vor der Massenmobilisierung in der übrigen Sowjetunion 17 – einen Mobilisierungsbefehl zur Zivilschutzarbeit für alle tauglichen Männer zwischen sechzehn und fünfzig Jahren und für alle Frauen (außer denen, die kleine Kinder versorgten) zwischen sechzehn und fünfundvierzig Jahren heraus. Die meisten wurden aufs Land geschickt, um Panzergräben auszuheben. Die übrigen buddelten in der Stadt Luftschutzkeller, tarnten öffentliche Gebäude (das gesamte Smolny-Institut wurde mit einem Netztuch überzogen, und Amateurbergsteiger malten die vergoldete Turmspitze der Admiralität grau an), wurden neuen Feuerlösch-, Bombenbeseitigungs- und Erste-Hilfe-Teams zugewiesen und ersetzten zur Armee einberufene Fabrikarbeiter. Die Verantwortung für diese Maßnahmen übertrug man den allgegenwärtigen und verhassten uprawdomy (Hausverwalter), die bevollmächtigt wurden, Verteidigungsaufgaben zuzuweisen, Aufenthaltsgenehmigungen zu überprüfen und Wehrdienstverweigerer anzuzeigen. 18
    Für Kinder waren diese neuen Aktivitäten recht unterhaltsam. Juri Rjabinkin half beim Bau von Luftschutzkellern in der Nähe der Kasaner Kathedrale mit. »Ich hab an beiden Händen Schwielen und Splitter«, schrieb er stolz. Beim Sandladen gab es weniger zu tun, aber die »Jungens haben aus Sand Hitlers Visage modelliert und mit Schaufeln zerdroschen«. Er spielte Billard und weitere Schachpartien im Pionierpalast und las David Copperfield . 19 Der kleine Igor Krugljakow, der sich selbst überlassen blieb, machte sich zu Nachforschungen auf: zu den Taurischen Gärten, wo silberne Sperrballons wie große Wale über den Kiespfaden dahinschwebten, und zum Suworow-Museum, dessen Pförtner ihn aufs Dach ließ, damit er sich die Renntauben des Mannes anschauen konnte. Verdunkelungen, nicht sehr effektiv in den kurzen, hellen Sommernächten, wurden am 27. Juni eingeführt, und Kinder erhielten phosphoreszierende, wie Glühwürmchen und Rosen geformte Abzeichen, mit denen Unfälle verhindert werden sollten. Dachkammern wurden mit Sand gefüllt und mit feuerfester Kalkfarbe bemalt und Fensterscheiben mit Papierstreifen oder Gaze überklebt, um Splitterungen abzuschwächen. Diese mechanische Tätigkeit, schrieb Ginsburg, wirkte »beruhigend, sie lenkte von der Leere des Abwartens ab. Und dennoch hatte man dabei auch ein seltsames und qualvolles Gefühl, wie etwa beim Anblick eines vor Sauberkeit blitzenden Operationssaals, in dem noch keine Verwundeten versorgt werden, und doch weiß man genau, daß er sehr bald voll von

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