Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
Vom Netzwerk:
Nacht, machten eine Hausdurchsuchung, nahmen nichts mit, fanden nichts, und doch wurde sie abgeführt. Ich weiß nur, dass der Dekan unseres Instituts ihr feindlich gesinnt ist.« Wahrscheinlich hege man den »Verdacht, sie habe Beziehungen zum Ausland«. Nachdem Skrjabina die Familie der Frau länger als geplant besucht hatte, stellte sie bei ihrer Rückkehr fest, dass ihre eigenen Angehörigen überzeugt waren, man habe sie ebenfalls verhaftet. 12
    Die am ehesten vorherzusehenden Opfer der neuen Terrorwelle, die Leningrad bei Kriegsausbruch überrollte, waren die Volksdeutschen der Stadt. Die Nachkommen der Baltendeutschen – der bäuerlichen Siedler, die von Katharina der Großen eingeladen worden waren, die südliche Steppe zu bestellen, oder der zahlreichen Deutschen, die später unter den Zaren eine Karriere als Fachkräfte oder im Staatsdienst eingeschlagen hatten – lebten meist seit Generationen in Russland und waren, mit Ausnahme ihres Familiennamens, von gewöhnlichen Russen nicht zu unterscheiden (manche versuchten, der Deportation zu entgehen, indem sie ihren Namen änderten, andere, indem sie sich als Juden ausgaben 13 ). Im Laufe eines Verfahrens, das man in den baltischen Ländern und Ostpolen bereits ausgiebig erprobt hatte, erhielten sie vierundzwanzig Stunden Zeit, um sich auf die Abreise in überfüllten Güterwagen vorzubereiten. Die Ziele dieser euphemistisch als »Zwangsevakuierung« bezeichneten Aktion waren die Arktis, Zentralasien, Sibirien und der Ferne Osten. Ungefähr 23000 Volksdeutsche und Volksfinnen wurden im Sommer 1941 und weitere 35162 im März 1942 über das Eis des Ladogasees deportiert. 14 Unter ihnen befanden sich die Tribergs, die am Newski-Prospekt über ihrem einstigen Familienunternehmen, dem bekannten Schuhgeschäft »Alexander«, gewohnt hatten. »Sie waren eine gewöhnliche Familie«, erinnerte sich eine Nachbarin sechzig Jahre später.
    Sie wohnten uns gegenüber, auf demselben Treppenaufgang des Newski-Prospekts 11 …
    Die Familie hatte drei Kinder, zwei Jungen und ein dreijähriges Mädchen. Die beiden älteren, zwölf und sechzehn Jahre alt, kamen manchmal auf einen Sprung vorbei. Ich nahm Deutschstunden bei ihrer Mutter und ihrer Tante – so schöne, elegante und intelligente Frauen. Die Mutter der Jungen war besonders freundlich und auch sehr intellektuell. Der ältere Sohn schien alle Fähigkeiten seiner Mutter geerbt zu haben, dazu die seines Vaters, eines Ingenieurs, der mehrere europäische Sprachen beherrschte. Ich kann mit Gewissheit sagen, dass das Land mit diesem jungen Mann einen künftigen Gelehrten verlor.
    Genauer ausgedrückt, es verlor die ganze Familie. So geschah es:
    1938 wurde der Vater verhaftet.
    1941 wurde auch die Mutter verhaftet.
    1944 erschoss man die Mutter.
    Die Söhne blieben als mittellose Waisen zurück, denn ihr gesamtes Eigentum war beschlagnahmt worden. Infolgedessen starb der ältere Sohn an Hunger, denn sie hatten nichts, was sie gegen Brot eintauschen konnten. Der jüngere Sohn blieb mit seiner Tante und deren kleiner Tochter zurück. Sie waren lebende Schatten: eine verhungernde Frau und zwei dystropische [entkräftete] Kinder. In diesem Zustand wurden sie über das Eis des Ladogasees aus Leningrad deportiert.
    Auf der Reise starb die Tante. Die beiden überlebenden Kinder wurden voneinander getrennt und kamen nie wieder zusammen. So ging eine Familie zugrunde, wie die Nachbarin trocken bemerkte, »während des letzten Krieges mit den Deutschen, aber nicht, streng genommen, durch die Hände der Deutschen«. 15
    Außerdem deportierte oder verhaftete man eine große Zahl (laut Sicherheitsdienstdokumenten 71112 bis Oktober 1942) »sozial fremder« und »verbrecherischer« Elemente der allgemeinen Bevölkerung. In der Praxis bedeutete dies, dass dieselben Menschen, die während der Säuberungen von 1936 bis 1938 aufs Korn genommen wurden, nun wieder betroffen waren: Mitglieder der alten Bourgeoisie (»deklassierte Elemente«), Bauern (»frühere Kulaken«), ethnische Minderheiten (»Nationalisten«), Kirchgänger (»Sektierer«), Frauen und Kinder von früheren Repressionsopfern (»Verwandte von Volksfeinden«) und jeder, der Beziehungen ins Ausland hatte oder Kenntnisse einer Fremdsprache besaß (»Spione und Verräter«). Wie immer konnte es tödlich sein, einfach nur seinem Groll Luft zu machen oder Naheliegendes zum Ausdruck zu bringen: Die erste Hinrichtung der Sowjetunion wegen »Verbreitung defätistischer Gerüchte«

Weitere Kostenlose Bücher