Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
Vom Netzwerk:
ihnen sein wird.« 20 Andere fanden das Endergebnis eher fröhlich und dekorativ, etwa wie die geschnitzten Fensterrahmen an reichen Bauernkaten. Die Bewohner eines Gebäudes an der Fontanka fertigten Bilder von Palmen mit darunter sitzenden Affen an, doch das häufigste Muster bestand aus zwei einfachen Diagonalen, und das so entstehende weiße Andreaskreuz wurde zu einem visuellen Leitmotiv der Belagerung.
    Dmitri Lichatschow, der aus medizinischen Gründen von der Wehrpflicht freigestellt war, absolvierte trotzdem eine militärische Ausbildung mit seinen Kollegen vom Puschkinhaus.
    Wir »Freifahrer« wurden in die Selbstverteidigungseinheit des Instituts berufen, mit doppelläufigen Schrotflinten ausgerüstet und vor dem Gebäude der Geschichtsfakultät gedrillt. Ich erinnere mich, dass B.P. Gorodezki und W.W. Gippius unter den Marschierern waren. Der Letztere ging amüsanterweise auf Zehenspitzen und beugte den ganzen Körper vor. Unser Ausbilder lachte still mit allen anderen.
    Lichatschow war weitblickend genug, Lebensmittelvorräte anzulegen. Er beharrte darauf, dass seine Angehörigen ihre vollständige, zunächst großzügige Brotration in Anspruch nahmen und Scheiben davon auf einer sonnigen Fensterbank austrockneten, bis sie einen Kissenbezug füllen konnten, den sie außer Reichweite von Mäusen an einer Wand aufhängten. Auch ließ er seine Familie alles kaufen, was in den sich rasch leerenden Läden, deren Schaufenster nun mit sandgefüllten Verschalungen ausgefüllt waren, zu finden war. Später wünschte er sich, dass sie noch mehr gehamstert hätten.
    Im Winter lag ich im Bett und dachte an das eine oder andere, bis mir der Kopf schmerzte. Dort, auf den Regalen in den Läden, waren Fischkonserven gewesen. Warum hatte ich sie nicht mitgenommen? Warum hatte ich nur sieben Gläser Lebertran gekauft und war nicht ein fünftes Mal zur Apotheke gegangen, um mir noch drei geben zu lassen? Warum hatte ich nicht ein paar Vitamin-C- und Traubenzuckertabletten gekauft? Diese Fragen nach dem »Warum« quälten mich. Ich dachte an jede ungegessene Schüssel Suppe, jede weggeworfene Brotrinde, jedes Stück Kartoffelschale mit solchem Bedauern und solcher Verzweiflung, als hätte ich meine eigenen Kinder ermordet. Aber trotzdem taten wir so viel, wie wir konnten, und schenkten keiner der beruhigenden Mitteilungen im Radio Glauben. 21
    Georgi Knjasew, der Direktor des Archivs der Akademie der Wissenschaften, saß mit gelähmten Beinen im Rollstuhl. Jeden Tag schob er sich dieselbe achthundert Meter lange Strecke am Damm der Wassiljewski-Insel entlang: von dem mit Bronzetafeln versehenen Gebäude der Akademiemitglieder, in dem er wohnte, vorbei an zwei polierten Sphinxen, die Nikolaus I. aus Luxor importiert hatte, am giebeligen Menschikow-Palast und am mit Linden bewachsenen Rumjanzew-Platz vorbei bis hin zum Säulenvorbau der Akademie. Am gegenüberliegenden Ufer erstreckte sich das klassische Petersburger Panorama: zur Linken, hinter der Schlossbrücke, die Rokokoklötze der Eremitage und des Winterpalais; gerade noch sichtbar hinter ihnen der Engel des Palastplatzes und die höchste Spitze der Auferstehungskirche; vorn das Admiralitätsgebäude mit seiner Turmspitze; zur Rechten die eiförmige Kuppel der Isaakskathedrale und dahinter Falconets berühmte Statue Peters des Großen, der »Eherne Reiter«, dessen Ross sich auf seinem Felsblock aufbäumte. Diese Strecke des Gehsteigs und diese Aussicht bezeichnete Knjasew als seinen »kleinen Radius«, die schmale Öffnung, durch die er die gesamte Belagerung beobachten würde. Der unauffällige und konventionelle Mann (sein Tagebuch richtet sich mit unabsichtlicher Ironie an »dich, meinen fernen Freund, Mitglied der künftigen kommunistischen Gesellschaft, dem der Krieg fremd und organisch zuwider sein wird, wie uns jetzt die Anthrophagie, der Kannibalismus, widernatürlich ist« 22 ) verbrachte die ersten Kriegstage damit, Radio zu hören (»Die Völker Europas müssen sich doch erheben!«), die Vorräte an Medikamenten (»gegen Verbrennungen und Verletzungen«) durchzusehen und seine Mitarbeiter anzuspornen, die dazu neigten, »das Sofa im Büro des Präsidenten zu bewachen« und nicht das Lagerhaus des Archivs. Am 2. Juli besuchte er die Verwaltungszentrale des Archivs im alten Senatsgebäude:
    Auf der Treppe, auf der einst das Rasseln von Gardeoffizier Lermontows Säbel zu hören war … hing nun ein Schienenstück an einer dicken Schnur und daneben ein

Weitere Kostenlose Bücher