Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Die Welle des Patriotismus, die Leningrad nach dem deutschen Einmarsch erfasste, war kurzlebig und wurde im Herbst, als die Stadt dem Sturz nahe zu sein schien und als die Bonzen mit Flugzeugen flüchteten, von Furcht und Verachtung verdrängt. »Nur mit Abscheu denken wir an die Bürgerin Napalkowa«, schrieb der Archivar Georgi Knjasew am 29. November 1941 über eine Kollegin:
Vor kurzem noch agitierte sie einen müde gewordenen »Schlappschwanz von Intelligenzler« und predigte, jeder Leningrader müsse auf der Hut und bereit sein, dem Feind eine Abfuhr zu erteilen … Noch wenige Stunden vor ihrem Abflug ließ sie kein Wort verlauten, daß sie die Stadt, ihre Kollegen und die Genossen in der Partei verlassen würde.
Dieser Vorfall ist um so betrüblicher, als die Napalkowa in die Akademie und ihre Parteiorganisation nach so vielen Fiaskos gekommen war und sich die feste Position (und sogar Achtung) eines standhaften, zuverlässigen Parteimitglieds erworben zu haben schien.
So verhalten sich diejenigen, die groß von Selbstaufopferung, Heldentaten und Heldentum reden. 7
Ebenfalls im Herbst 1941 erreichte ein Phänomen, das allerdings nie so verbreitet war, wie die Deutschen annahmen, seinen Höhepunkt: die Abstempelung der beträchtlichen jüdischen Minderheit Leningrads (knapp über sechs Prozent seiner Vorkriegsbevölkerung) als Sündenbock. Am 1. September wurde Irina Selenskaja, eine leitende Angestellte im Lenenergo-Kraftwerk, durch »ein Aufblitzen des Antisemitismus« bei einem »groben, vulgären Mädchen« in der Kantine schockiert. Überall, schrieb sie beunruhigt, werde »in Ecken gemurmelt, wirft man Parteimitgliedern schiefe Blicke zu, herrschen Misstrauen und Feindseligkeit – all das könnte in eine schreckliche Explosion münden«. 8 Im Russischen Museum war das Personal nach Aussage der (eindeutig antisemitischen) Anna Ostroumowa-Lebedewa »von Empörung über das Verhalten der Juden erfüllt … Als in einer Sitzung um Freiwillige gebeten wurde, sprachen sie sehr inbrünstig und patriotisch, doch in der Praxis gelang es ihnen ausnahmslos, sichere Plätze für sich selbst zu finden.« 9 Statt die Deutschen anzugreifen, so scherzte man über die zahlreichen Leningrader Intelligenzler, die nach Zentralasien evakuiert wurden, stürmten die Juden Taschkent.
Der Zuspruch für die Behörden stieg im Dezember mit dem Sieg in der Schlacht um Moskau, sank jedoch wieder im Januar 1942, als die Belagerung durch Sowjetoffensiven nicht aufgehoben werden konnte und als versprochene Rationserhöhungen nicht eintrafen. Die Bekanntgabe der Erhöhung war am 25. Dezember mit wildem Jubel begrüßt worden: »Sie haben unsere Brotzuteilung angehoben. Mama und ich weinten vor Freude … wir sind so glücklich, dass ich nicht schreiben kann!«, teilte eine Frau ihrem Mann an der Front mit. 10 Vera Inber erfuhr durch ihre Putzfrau davon, die gesehen hatte, wie ein Mann aus einem Brotladen wankte und dabei »weinte, lachte, sich an den Kopf griff«. 11 Die Bekanntgabe war jedoch nur ein Propagandatrick; in Wirklichkeit wurden noch weniger Lebensmittel verteilt als vorher. Am 29. Dezember reihte sich Iwan Schilinski um sechs Uhr in die Schlange vor seinem verhassten Laden Nr. 44 in der Moskowskaja-Straße, wo amerikanisches Büchsenfleisch angeliefert werden sollte. Als man den Laden dreieinhalb Stunden später im Morgengrauen öffnete, entdeckte Schilinski, dass es nur genug Fleisch für zweihundert Personen gab. Da er die Nummer 233 hatte, entschied er, dass sich das Warten nicht mehr lohne, und kehrte mit leeren Händen heim. An jenem Tag bestand die einzige Mahlzeit, die seine Frau und er zu sich nahmen, aus fünfzig Gramm Brot und einem Teller »Suppe« aus heißem Wasser, Brotkrümeln und Baumwollsamenöl. Zwei Tage nach Neujahr bildeten sich um ein Uhr morgens Schlangen, die bald außer Kontrolle gerieten. »Warteschlangennummern«, schrieb er,
werden niedergeschrieben und ausgeteilt. Wer seine erhalten hat, eilt davon, um sich aufzuwärmen. Aber andere, die später eingetroffen sind, drängen sich manchmal vor, indem sie neue Nummern aufschreiben … Es wird sechs Uhr, doch der Laden bleibt geschlossen. Ebenfalls um sieben und acht. Dann um neun, wenn ihr der Sinn danach steht, macht die Geschäftsführerin endlich auf, und alle schieben sich hinein, bis der Laden zum Bersten voll ist. Sämtliche Scheiben vor der Kasse sind zertrümmert worden, man hat die Tresen beiseitegeschoben und so weiter.
Die
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