Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
einen ungefähr fünfzig Quadratkilometer großen Kessel besetzt, dessen Nordrand nur zehn Kilometer von einem der Hauptangriffsziele, der Eisenbahnstadt Ljuban, entfernt war.
Die Erfolge waren auf dem Papier jedoch eindrucksvoller als in der Realität. Bemühungen, die Lücke in der feindlichen Linie zu erweitern, scheiterten gegen rasch herbeigeholte Verstärkungen. Ljuban blieb knapp außer Reichweite, und der gewonnene Boden bestand – von ein paar Ausnahmen abgesehen – aus flachen und praktisch unbewohnten Wäldern, Torfmooren und Sümpfen. Hitler durchschaute die Verwundbarkeit der 2. Stoßarmee und befahl dem neuen Befehlshaber der Heeresgruppe Nord, Georg von Küchler (der Leeb im Januar abgelöst hatte), die Stoßarmee durch das Unternehmen »Raubtier« von der übrigen Wolchow-Front abzuschneiden. »Gefordert wird Zusammenfassen der Luftwaffe: 7.3. bis 14.3. … Nach Abschluß des Einbruchs am Wolchow soll nicht mehr viel Blut aufgewendet werden; um den Feind im Sumpf niederzukämpfen, muß man ihn verhungern lassen.« 18 Der Gegenangriff begann am 15. März in der Morgendämmerung, und innerhalb von fünf Tagen waren zwei Straßen – mit den Spitznamen Erika und Dora – durchtrennt, die in das besetzte Gebiet führten. Am Ende des Monats, nach verzweifelten, hin und her wogenden Kämpfen um Mjasnoi Bor, hielten die Sowjetsoldaten einen nur noch anderthalb Kilometer breiten Korridor in den Kessel, über den Vorräte nachts mit Schlitten befördert werden mussten.
Karte 5: Der Kessel von Mjasnoi Bor, Mai 1942
Im April setzte das Tauwetter ein. Die frostige Stille wurde durch Nieselregen und das Rauschen von Wasser ersetzt. Hockenjos, der immer noch in Swanka untergebracht war, beobachtete die sich wandelnde Landschaft, fotografierte die ersten kleinen, nun sichtbar werdenden Erdflecke – dunkel und mit Strohbüscheln durchsetzt –, und saß stundenlang auf dem Glockenturm des Klosters:
Die Senke … zeigt sich nun als schilfbestandenes Ried mit weiten Wasserflächen zwischen vergilbtem Gras, schwarzer Moorerde und spärlichen Schneeresten, darüber ein hoher Frühlingshimmel mit feinem Lämmerwolkenmuster, ein Meer voll Lerchenjubel und Kiebitzgeschrei …
Überall … hocken die wachfreien Mannschaften mit nacktem, bleichem Oberkörper … 19
Der eingeschlossenen 2. Stoßarmee bescherte das Tauwetter nur neues Elend. Der Korridor, der sie noch mit der russischen Front verband, wurde unpassierbar, womit die Nachschublieferungen und die Evakuierung der Verwundeten nicht mehr fortgesetzt werden konnten. Pferde starben und wurden gegessen; Unterstände wurden überschwemmt, und Geschosse mussten mit der Hand getragen werden. Die Männer wateten bis zur Hüfte durchs Wasser oder sprangen unter deutschen Spottrufen »wie Kaninchen« von Grasbüschel zu Grasbüschel. Für die Deckung am Tage bauten sie »Schutzwälle« aus Ästen, Moos und Laub; nachts schliefen sie im Freien am Feuer, wo sie sich ihre durchnässten Filzstiefel und Steppjacken versengten. Um die Offensive wiederzubeleben, tauschte Stalin seine Generale aus. Er rief Merezkow zurück und unterstellte die Leningrader der Wolchow-Front, die von Schukows Protegé Michail Chosin befehligt wurde. Andrej Wlassow, ein hochgewachsener, bebrillter Berufssoldat, der die 37. Armee aus der Umzingelung bei Kiew hinausgeführt und im Dezember den Gegenangriff vor Moskau organisiert hatte, wurde eingeflogen, um das Kommando über die 2. Stoßarmee zu übernehmen.
Am 12. Mai gab Chosin, der vom Nachrichtendienst erfahren hatte, dass die Deutschen Verstärkungen herbeiholten, Wlassow den Befehl, aus der Umzingelung auszubrechen und zur übrigen Wolchow-Front zurückzukehren. Obwohl fünf Divisionen und vier Brigaden durch den Mjasnoi-Bor-Korridor hinausgelangten und laut deutschen Unterlagen mindestens zweitausend Mann desertierten, blieben weitere sieben Divisionen und sechs Brigaden – ungefähr 20000 Mann – immer noch im Kessel gefangen. 20 »Der Feind umringte eine Einheit immer als Erstes«, erinnerte sich ein Überlebender, »wartete, bis sie durch den fehlenden Nachschub geschwächt war, und schlug dann zu«:
Wir waren völlig hilflos, da wir keine Munition, kein Benzin, kein Brot, keinen Tabak, nicht einmal Salz hatten. Am schlimmsten war der Mangel an medizinischer Hilfe. Keine Medikamente, kein Verbandsmaterial. Man möchte den Verwundeten helfen, aber wie? Unsere Unterwäsche ist seit Langem für Verbände verbraucht worden; wir haben
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