Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
nur noch Moos und Baumwolle. Die Feldlazarette sind überfüllt, und die wenigen Mediziner verzweifeln. Viele Hundert nicht mehr gehfähiger Verwundeter liegen einfach unter Büschen. Um sie herum summen Mücken und Fliegen wie Bienen in einem Korb. Näherst du dich, fliegt der ganze Schwarm hinter dir her, bedeckt deinen ganzen Körper, kriecht dir in Mund, Augen und Ohren – unerträglich. Mücken, Fliegen und Läuse – unsere verhassten Feinde … Die Läuse sind nichts Neues – aber in solchen Mengen … Die grauen Teufel fressen uns bei lebendigem Leibe auf, mit Genuss … Der Versuch, sie zu zerquetschen, lohnt sich nicht. Du kannst sie nur, wenn du einen freien Moment hast, von dir schütteln. An jedem einzelnen Knopf findest du sechs oder sieben …
Doch das Hauptproblem war der Hunger. Bedrückender, nie endender Hunger. Wohin du auch gingst, was du auch tatst, der Gedanke ans Essen verließ dich nie … Unser Nachschub hing nun von U2-Flugzeugen ab. Jedes war in der Lage, fünf oder sechs Säcke suchari zu tragen. Aber es gab Tausende von uns – wie könnte genug für alle da sein? Wenn ein Sack landet, ohne beim Aufprall zu zerplatzen, dann entspricht das einem Stück Trockenbrot für zwei Soldaten. Im Übrigen ist man sich selbst überlassen. Man muss essen, was man findet: Baumrinde, Gras, Blätter, Zaumzeug … Einmal hat jemand in der Asche einer Hütte eine alte Kartoffel entdeckt. Wir zerschnitten sie, und jeder erhielt ein winziges Stück. Welch ein Festmahl! Manche Männer leckten an ihrem Stück, andere rochen daran. Der Duft erinnerte mich an zu Hause und an meine Familie. 21
Ein weiterer Austausch der Befehlshaber – man entfernte Chosin und trennte die beiden nördlichen Kommandoposten wieder voneinander (die Wolchow-Front wurde dem rehabilitierten Merezkow zurückgegeben, die Leningrader Front ging an den schweigsamen Artilleristen Leonid Goworow) – kam viel zu spät, um etwas ausrichten zu können. 22 Bis Mitte Juni wurden die Reste der 2. Stoßarmee in einen kleinen Sumpfstreifen westlich von Mjasnoi Bor gedrängt:
Weiße Nächte, weshalb deutsche Flugzeuge rund um die Uhr am Himmel waren, uns mit Bordwaffen angriffen und Bomben abwarfen. Das Granatfeuer dröhnte pausenlos und betäubend, genau wie das Knarren der berstenden und brennenden Bäume … Wir waren keine Armee mehr, sondern eine Schar von Marktbesuchern. Ein völliges Durcheinander – keine Kommunikation zwischen Einheiten, der Gehorsam gegenüber dem Oberkommando existierte nicht mehr. Keine Information über unsere eigene Lage, doch unbegrenzte Mengen deutscher Propaganda – Flugblätter, Zeitungen, farbige Bekanntmachungen, die sich auf dem Boden häuften und in denen wir zur Kapitulation aufgefordert wurden … Der Wald brennt, der Torf schwelt. Überall sind Bombentrichter und verdrehte, geborstene Bäume – Stapel nutzloser Gewehre, ruinierte Geschützlafetten. Und Leichen – Leichen, wohin man blickte. Tausende, stinkend und von Fliegen bedeckt, in der Junisonne verwesend. Wenn du an einer vorbeigehst, erheben sich die Fliegen und stürzen sich auf dein Gesicht – du kannst nichts erkennen, sie sind in deinen Augen, deiner Nase, überall. Große, dicke summende Fliegen – es ist widerlich, sich an sie zu erinnern. Auf jedem Flecken trockenen Bodens liegen verwundete Soldaten, schreiend, seufzend, flehend – manche bitten um Wasser, andere darum, dass jemand ihrem Leben ein Ende setzt. Aber niemand ist interessiert. Menschen, gleichgültig, mürrisch, halb wahnsinnig, wandern durch die Wälder; mit Mützen, deren Ohrenklappen unter dem Kinn zusammengebunden sind, um die Mücken fernzuhalten; mit von Schlafmangel roten und geschwollenen Augen … Niemand muß Wache halten, wir verlieren das Gefühl für die Zeit. Welches Datum ist heute? Ist es Tag oder Nacht? 23
Das Ende kam in den unerbittlich sonnenhellen Nächten zwischen dem 21. und dem 24. Juni: in Form einer Reihe selbstmörderischer Ausbruchversuche durch eine Lücke in den deutschen Linien, die vier Kilometer lang und nur ein paar hundert Meter breit war. Wer genug Kraft besaß, trug ein Gewehr; die Abgezehrten und Verwundeten hatten keine Waffen bei sich. Das deutsche Feuer war, mit den Worten eines Überlebenden, »so heftig, dass alles in die Luft geschleudert wurde – Menschen, Erde, Bäume. Vor Rauch war nichts zu sehen.« Über alte und neue Leichen stolpernd, suchte er Unterschlupf in einem Bombenkrater und rutschte dann, vorbei an einem
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