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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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deutschen Panzer, auf einen Fluss zu. »Eine erstaunliche Stille kehrte ein, dann plötzlich eine Stimme: ›Halt! Wer ist da!‹ Es waren unsere Soldaten, die sich zur anderen Seite durchgeschlagen hatten.« 24
    Ein Soldat, der sich nicht mehr zu seiner eigenen Seite durchschlug, war General Wlassow. Er hatte ein paar Tage vorher jegliche Funkverbindung zum Hauptquartier eingestellt. Es ist unklar, wie genau er die nächsten drei Wochen verbrachte, aber am 12. Juli wurde er von den Deutschen in einem Dorf am Westrand des Kessels gefasst und nach Winniza in der Zentralukraine geflogen, der Stätte von Hitlers neuem vorgelagerten Hauptquartier und eines Sonderlagers für hochrangige sowjetische Gefangene. Hier – vielleicht aus Zorn über die Mjasnoi-Bor-Katastrophe, vielleicht nach Jahren der Frustration und des unterdrückten Zweifels – wandte sich Wlassow gegen Stalin: Er schrieb einen Brief an die nationalsozialistischen Behörden, in dem er ausführte, dass zahlreiche Sowjetbürger überaus antibolschewistisch eingestellt seien, weshalb man Zivilisten in besetzten Gebieten besser behandeln und sowjetische Kriegsgefangene für eine Russische Nationalarmee rekrutieren solle. Aber er hatte die Adressaten falsch eingeschätzt, denn Hitler tat den Vorschlag als Hirngespinst ab. Obwohl die Nationalsozialisten Wlassow ausgiebig für Propagandazwecke nutzten, indem sie ihn in die besetzten Territorien schickten und seinen Namen auf Flugblättern nannten, auf denen die Rote Armee zur Kapitulation aufgefordert wurde, begegnete er Hitler nie persönlich und erhielt erst im Februar 1945 den Befehl über zwei aus Kriegsgefangenen gebildete Divisionen. Im Mai wurde er von den Sowjets in den Wirren des Prager Aufstands gefangen genommen. Sie verurteilten ihn im Juli 1946 zum Tode und richteten ihn am 2. August 1946 hin. 25
    Wlassows Verrat war fatal für den Ruf der 2. Stoßarmee, deren Untergang nun nicht mehr mit heldenhaftem Widerstand, sondern mit einer bewussten Massendesertion in Verbindung gebracht wurde. Im August holte man Generalmajor Afanasjew, Wlassows Kommunikationschef, hinter den feindlichen Linien hervor, wo er wochenlang zusammen mit Partisanen von Igeln gelebt hatte, und flog ihn zurück nach Moskau. Sein Vernehmungsbericht, in dem er schildert, dass Wlassow in stumme Gleichgültigkeit verfallen und dann allein im Wald verschwunden sei, lässt vermuten, dass er sich vor einer Verratsanklage fürchtete. Auf dem Rückflug über die sowjetischen Linien hatte Afanasjew den Ruf »Hurra! Lang lebe unser großer und geliebter Freund und Lehrer Genosse Stalin!« nicht unterdrücken können, obwohl er der einzige Passagier gewesen sei und der Pilot ihn nicht gehört habe. 26
    Nach dem Krieg war jegliche Erwähnung der 2. Stoßarmee tabu. Man schrieb keine historischen Abhandlungen über sie, hielt keine Zeremonien ab und errichtete keine Denkmäler, den Witwen der Gefallenen wurden sogar Militärpensionen verwehrt. Ehemalige Kämpfer der Armee mussten ihren Dienst als schändliches Geheimnis behandeln, etwa so, als stammten sie aus der Familie eines Kulaken oder eines Geistlichen. Die Rehabilitation begann erst Ende der siebziger Jahre, als örtliche Freiwilligengruppen Reisen in die Provinzen organisierten, um Tausende noch unbegrabener Leichen zu bergen und anständig zu bestatten.
    Sascha Orlow ist der Sohn eines der Gründer der Freiwilligenbewegung. Bekleidet mit hohen Gummistiefeln und einer Armeejacke, steht er neben einem stillgelegten Halbkettenfahrzeug in der Wildnis ein paar Kilometer südöstlich von Mjasnoi Bor. Schnee und Himmel sind von eintönigem, trübem Grau; die Orange- und Goldfarben der frischen Weiden und toten Schilfrohre sind gedämpft. Knapp außer Sicht, wo sich der Boden senkt, liegt der Wolchow. Außer dem Zwitschern von Finken in einem nahe gelegenen Gesträuch herrscht Stille. Hier, erklärt Sascha, habe sich ein deutscher Bunker befunden. Er kratzt den Schnee mit dem Fuß weg und legt rasch einen Lederstiefel, eine rostige Säge, zwei mit Sand gefüllte grüne Weinflaschen, den Teil eines Munitionsgürtels, ein Ofenrohr, das gewundene Skelett eines Schlauches und Dutzende von zugespitzten Gewehrpatronen des Kalibers 7,92 mm frei, die in säuberlichen Reihen in einem verfaulten Holzkasten verpackt sind. Er ignoriert nervöse Bitten zur Einhaltung der Sicherheitsvorschriften, zerschmettert eine der Patronen an einem Stein und kippt ein Häufchen glänzender schiefergrauer Flocken auf

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