Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Metallstab – ein Klopfer. Dies ist für den Fall eines Gasalarms gedacht. Auf dem oberen Treppenabsatz war es dunkel, obwohl dort blaue Lampen brannten. Während ich durch den Korridor ging, der in fast völlige Dunkelheit gehüllt war, kam ich mir vor wie in einer Meyerhold-Inszenierung.
Das IRLI[Institut der russischen Literatur]-Lager bot einen furchtbaren Anblick. Ich konnte die Arbeitszimmer kaum wiedererkennen. Chaos herrschte … Hinter einer Statue von Alexander Wsewolowski standen zwei große Wasserfässer, von denen eines bereits leckte. Überall sah man Spaten und Kisten mit Sand, und ein Feuerwehrschlauch zog sich durch den Korridor. Vor dem Puschkinraum standen Abstellkästen, einige leer, einige voll. Ich muss ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen: Puschkins Manuskripte waren perfekt eingepackt … Aber es gab eine Menge Lärm und Aufregung. Direkt neben den Kästen diktierte jemand einer Stenotypistin einen Artikel über den Faschismus. Ein anderer Mitarbeiter fertigte eine Liste der zu verpackenden Gegenstände an … Dauernd stieß ich auf Gruppen, die Sandsäcke trugen.
Jelena Skrjabina beschloss, sich dem Krieg zu entziehen und ihre Verhaftungschancen zu mindern, indem sie eine Datscha (die Preise waren stark gesunken) bei Puschkin mietete, dem früher Zarskoje Selo (»Zarendorf«) genannten Ort, der am Sommerpalais der Herrscher entstanden war. Dort verbrachten Jelena und ihre Kinder die Zeit damit, im Sonnenschein durch den mit Zierbauten gesprenkelten Katharinenpark zu spazieren. »Blauer Himmel, blauer See und der grüne Rahmen des Ufers. Es war friedlich. Keine Stimmen ertönten. Niemand schlenderte die Pfade entlang. Nur irgendwo in der Ferne funkelten die Silberwände der Paläste durchs Laub.« 23
Bei den wöchentlichen Besuchen in der Stadt war es jedoch unmöglich, die Realität auszuschalten. Sie hatte Angst vor Gasangriffen (unnötigerweise, denn obwohl man Gasmasken verteilt hatte, brauchten sie nie benutzt zu werden) und vor einer Hungersnot, »denn all die Versicherungen in den Zeitungen, dass wir enorme Lebensmittelvorräte hätten, sind dreiste Lügen«. Ihre Nachbarin Kurakina erzählte flüsternd von den Schlägen, die ihr nun halb tauber und furchtsamer Mann im Lager hatte ertragen müssen. Ganz oben am wolkenlosen Himmel hinterließen Flugzeuge Kondensstreifen – eine gespenstische Neuheit für die Leningrader, die vermuteten, es handele sich um mögliche Zielobjekte.
Erst am 3. Juli, elf Tage nach dem Überfall, hielt Stalin seine erste Rundfunkansprache der Kriegszeit. Ungeschliffen, aber spontan – das Glas klickte an seine Zähne, wann immer er einen Schluck Wasser trank –, hatte seine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede laut dem Moskauer BBC-Korrespondenten Alexander Werth »nur eine Parallele, die berühmte Ansprache, die Churchill nach Dünkirchen gehalten hatte«. 24 Er begann mit einer neuen, fast flehentlichen Informalität – »Genossen, Bürger, Brüder und Schwestern: ich spreche zu euch, zu meinen Freunden!« – und rief die Nation zum totalen Krieg wie im Kampf gegen Napoleon auf. Die Produktion werde auf vollen Touren laufen, und »es wird in unseren Reihen keinen Raum für Feiglinge und Zauderer, für Deserteure und Panikmacher geben«. Solche Personen würden sich vor Militärgerichten verantworten müssen. Kein »einziger Eisenbahnwaggon, kein Pfund Brot noch ein halber Liter Öl« werde auf dem Pfad der faschistischen Sklavenhalter zurückbleiben, und hinter ihren Linien würden Partisanen Straßen und Brücken sprengen, Telefondrähte zerstören und Wälder, Geschäfte und Geleitzüge in Brand stecken. »Unerträgliche Bedingungen« sollten für »den Feind und seine Komplizen« geschaffen werden, die »auf Schritt und Tritt zu verfolgen und zu vernichten« seien. Stalin endete mit brutalem Nachdruck: »Die ganze Kraft des Volkes muss eingesetzt werden, um den Feind zu zerschmettern. Vorwärts, dem Sieg entgegen!«
Die Rede hatte in Leningrad und anderswo eine beruhigende Wirkung. In Moskauer Kinos brachen die Zuschauer, wie Werth sich erinnerte, in rasenden Jubel aus, wenn Stalin in einer Wochenschau erschien (was sie im Dunkeln nicht getan hätten, wenn sie es nicht ehrlich gemeint hätten). 25 Obwohl Stalin den Erfolg von Barbarossa in Wirklichkeit stark untertrieben und von schweren deutschen Verlusten gesprochen hatte, glaubten die Russen nun, das Schlimmste gehört zu haben und auf festem Boden zu stehen. Die siebzigjährige Aquarellmalerin
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